Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Tahn beschlich der Eindruck, dass der Schreiber ihnen irgendetwas über den Wert oder die Funktion dieser Bibliothek verschwiegen hatte. Bald hatte Edholm sie abgehängt, so dass sie nicht mehr sehen konnten, wo er hinlief, sondern nur noch seinen hastigen Schritten folgten.
Gleich darauf drang ein gequälter Schrei aus der Tiefe zu ihnen.
Tahn und Sutter rannten in die Richtung, aus der er gekommen war, und der Lärm ihrer Schritte hallte von den Wänden wider.
Erneut hörten sie einen herzzerreißenden Schrei.
Nach ein paar Stufen erreichten sie einen langen Flur, der sich tief im Berg zu einem großen Saal öffnete, von dem aus keine weiteren Gänge mehr wegführten. Dort sahen sie einen bleichen Schimmer – der Fels leuchtete trübe für das einzige Leben im Saal. Tahn und Sutter liefen langsamer auf den bogenförmigen Durchgang am Ende des Ganges zu. In der Mitte des Raums stand ein steinernes Pult wie ein leerer Altar, passend abgeschrägt, um aus einem aufgeschlagenen Buch zu lesen. Die Position im Raum vermittelte Tahn den Eindruck, dass hier ein Buch von besonderer Bedeutung gelegen haben musste.
»Nein«, murmelte der Schreiber. »Bei all meinen Himmeln, nein.«
Edholm lief taumelnd um das Pult herum, als könnte er irgendetwas finden außer der dicken Rußschicht, die es bedeckte. Er drehte sich immer wieder im Kreis und starrte die leeren Wände an. In den Stein gehauene Regale enthielten nur qualmende Haufen wie jene, die sie überall in der Bibliothek vorgefunden hatten. Die Überreste halb verbrannter Schreibtische erinnerten ihn an unbesetzte Zinnen in diesem Hort der Gelehrsamkeit. Und an der gegenüberliegenden Wand hingen zarte Fäden, die einst zu einem Gobelin gehört haben könnten, wie rußige Spinnweben herab. Dann fiel der Schreiber inmitten eines Haufens aus Asche und versengten Seiten auf die Knie und schob beide Hände tief in die Reste. Er schloss die Fäuste um die zerstörten Seiten, hob die Hände vor die Augen und flüsterte Worte, die Tahn nicht verstehen konnte. Schwarze Flöckchen tanzten um den Schreiber in der Luft, angeleuchtet vom Boden, der unter Edholms Knien schimmerte.
Der Schreiber zitterte heftig, als hielten seine Nerven all dem nicht mehr stand. Zornig schleuderte er die Asche um sich, denn offenbar wurde ihm die furchtbare Wirklichkeit erst jetzt bewusst.
Tahn sah den Mann trauern und sagte nichts. Dieser Augen blick schien dem Schreiber allein zu gehören. Edholm neigte den Kopf wie zum Gebet, und der Boden um ihn herum leuchtete heller durch die Rußschicht hindurch. In stiller Resignation murmelte er: »Das ist das Ende.«
Tahn wollte dem Schreiber ein wenig Zeit für sich allein lassen und nach möglichen Überlebenden suchen. Er berührte Sutter am Arm und bedeutete seinem Freund mit einem Ni cken, ihm zu folgen.
Sie hatten erst einen Schritt getan, als Edholm mit hohler Stimme sagte: »Selbst wenn noch andere am Leben sind, würden sie lieber sterben, als davon erfahren zu müssen.«
Tahn wandte sich zu dem Mann um. »Wovon?«
Mit geröteten Augen starrte der Schreiber Tahn an, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen. Dann kehrte das kluge Funkeln in seine Augen zurück, und sein Gesicht strahlte wieder Scharfsinn und Intelligenz aus.
»Keine Spiele mehr, Melura«, fauchte er. »Jäger mögt ihr sein, aber das hat euch nicht nach Kumram geführt. Ihr seid die ersten Zeugen dieser Vernichtung.« Er hob zwei Hände voll Pergamentasche. »Also muss ich etwas von euch verlangen.« Edholm fegte zornig mit beiden Händen Schutt und Asche vom Boden um ihn herum. »Kommt her«, sagte er mit gebrochener Stimme. Tahn und Sutter gehorchten. Ohne aufzublicken, griff der Schreiber nach einem der Bücher, die um seine Taille befestigt waren, und riss ganz hinten drei leere Seiten heraus. Er legte sie auf den Boden und reichte jedem einen Federkiel aus seinem Gürtel. »Könnt ihr schreiben?«
Sie nickten.
»Gut. Ihr werdet jetzt niederschreiben, was ihr hier gesehen habt, meine Freunde«, sagte er eindringlich. »Lasst nichts aus. Schildert die Zerstörung, den Gestank, die Asche, den geschmolzenen Fels. Schreibt auch von mir und meiner Schande. Doch vor allem beschreibt die leeren Kammern und Säle, die ihr gesehen habt, das Schicksal der Bücher, die Zerstörung der Bibliothek von Kumram. Und dann setzt euren Namen darunter.«
»Aber warum …«, begann Sutter.
»Widersprich mir nicht, Bursche«, unterbrach der Schreiber ihn mit scharfer Stimme. »Ich
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