Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
halten.
Lange nach dem Dunkelwerden hielt Vendanji an. Der Regen hatte nachgelassen, und weit im Süden funkelten Sterne durch zwei kleine Wolkenlücken. »Wir müssen uns ausruhen«, erklärte der Sheson leise. »Tausend Schritt westlich der Straße steht ein verlassenes Haus. Dort werden wir schlafen.« Mira glitt lautlos aus dem Sattel und verschwand zwischen den Bäumen auf der linken Seite.
»Wir führen die Pferde«, ordnete Vendanji an. Das Licht der Sterne spiegelte sich als Funkeln in seinen Augen und ließ ihn bedrohlich wirken. Der Mond erhellte den Rand der Wolkenlücke im Süden. Das weiche Licht am Horizont gab Sutter ein Gefühl schwacher Sehnsucht ein, als sei er schon lange aus dem Helligtal fort, und doch lag so ein weiter Weg vor ihm.
Noch immer fand er die Vorstellung aufregend, das Helligtal zu verlassen, doch zu seiner Überraschung zog es ihn auch dorthin zurück.
Das Gefühl hielt nicht lange an.
Sutter half Wendra aus dem Sattel, und Tahn stützte sie auf dem Weg durch die Bäume. Braethen stieg ab und führte sein Pferd neben Sutter her.
»Dies ist dein Nordsonn-Fest, nicht?«, fragte er. Sein Profil im Dunkeln erinnerte Sutter an Ogea und A’Posian – nicht an einen Sodalen.
»War es«, antwortete Sutter. »Ich weiß gar nicht genau, vor wie vielen Tagen. Der Himmel ist schon so lange grau. Ein Albtraum für Gemüsebauern.«
»Es ist trotzdem dein Nordsonn, Sutter«, versicherte ihm Braethen. »Der nächste Vollmond bringt dir den Wandel.« Er umging eine umgestürzte Tanne. »Wer wird dein Beistand sein?«
»Mein Vater. Aber wer weiß, ob wir bis zum Vollmond wieder im Helligtal sind.« Sutter folgte ihm um den Baumstamm herum.
»Das bezweifle ich. Dies ist auch Tahns Jahr, oder?«, fragte Braethen weiter. Sutter sah, wie er sich nachdenklich über den Bart strich.
»Ja, wir hatten vor … ach, egal.« Er stapfte weiter. Das Abenteuer, in dem er sich plötzlich wiederfand, vertrieb rasch jeden anderen Gedanken aus seinem Kopf. Er konnte der Unterhaltung kaum folgen.
Braethen legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie stumm. Dann ging er ein wenig schneller, um zu Vendanji aufzuholen. Sutter konzentrierte sich auf den Boden, der mit Steinen und herabgestürzten Ästen übersät war. Der Geruch von Harz hing in der Luft, mit dem die Bäume sich von den Schäden der Stürme zu heilen versuchten.
Sutter beeilte sich und holte Tahn und Wendra ein.
»Heimweh fühlt sich gut an, findest du nicht?«, bemerkte Sutter und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Oh ja, himmlisch, Rübenbauer«, brummte Tahn.
»Also wirklich, Tahn«, entgegnete Sutter. Ihm war der Ernst ihrer Lage durchaus bewusst. Aber ging es beim Wandel, der ihnen bevorstand, nicht genau darum? Dass man erwachsen wurde? Die Dinge ernster nehmen musste? Wenn sie für ihr Leben verantwortlich waren, konnten sie es auch selbst in die Hand nehmen. Und es würde gewiss nicht schaden, wenn sie dabei in das eine oder andere Abenteuer gerieten! »Wolltest du etwa den Rest deines Lebens Fleisch für Hambleys Küche jagen? Eines Tages werden die Vorleser vielleicht von uns erzählen. Bar’dyn im Helligtal. So etwas hat es noch nie gegeben, und sie jagen den Jäger.« Er stupste Tahn mit dem Ellbogen an und unterdrückte ein Lachen über sein eigenes Wortspiel. »Und außerdem, was hält dich noch im Helligtal? Wendra ist doch bei uns.«
Sein Freund blieb stehen, nahm die Zügel in die andere Hand und bat Wendra, vorsichtig mit Braethen weiterzugehen, der direkt vor ihnen war.
Das Mindere Licht drang immer stärker durch die dünnere Wolkendecke und erreichte hier und da den Boden um sie herum. Als die beiden nebeneinander weitergingen, fragte Tahn. »Warum hast du mir nie erzählt, dass du ein Adoptivkind bist?«
Die Frage hing zwischen ihnen in der Luft, und Sutter zögerte eine Weile mit der Antwort. Er musste sich überlegen, was er sagen sollte. Dieses Geheimnis wahrte er schon sein Leben lang. Manchmal fühlte es sich an wie eine schreckliche Last, und er verfluchte die Menschen, die ihn im Stich gelassen hatten. Dann wieder schätzte er sich glücklich, überhaupt ein Zuhause gefunden zu haben. Und wenn er die wichtigen Menschen in seinem Leben zählte, war es schlagartig ganz einfach: seine Mutter, sein Vater, ein Bruder – der leibliche Sohn seiner Eltern – und Tahn. In vielerlei Hinsicht stand er Tahn sogar näher als den anderen.
Er hatte es seinem Freund schon oft sagen wollen. Denn das war
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