Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Titel: Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Orullian
Vom Netzwerk:
den Bar’dyn über ihre Wiese zu den Bäumen fliehen sehen, den leblosen Säugling in einer Hand. Er war froh, dass Wendra das nicht gesehen hatte.
    »Es tut mir …«, begann er, doch dann fand er keine Worte mehr.
    Sie hob eine Hand, und er nahm sie. »Leg dich schlafen, Tahn. Später werden wir genug Zeit haben, darüber zu sprechen.« Das war keine Vergebung. Noch nicht. Aber sie wies ihn auch nicht ab. Er blieb neben ihr liegen, ohne ihre Hand loszulassen, und stellte fest, dass der Blutgeruch bald verschwand, weil seine Nase sich rasch daran gewöhnt hatte. Augenblicke später schlief er ein.
    Wie stets wachte er auf, während die Dunkelheit noch schwer auf dem Land lag. Das Feuer loderte heiß im Kamin, und um ihn herum schliefen Sutter, Wendra und Braethen tief und fest. Mira saß im Schaukelstuhl in der Nähe des Fensters. Ein Schwert lag quer über ihren Knien, und sie hielt die Finger lose um das Heft gekrümmt. Als er sich regte, wandte sie den Blick in seine Richtung und musterte ihn im Dunkeln. Ohne den Kopf an der Lehne des Stuhls zu bewegen, schloss sie die Augen wieder. Falls Vendanji nebenan im Schlafzimmer war, konnte Tahn ihn jedenfalls nicht sehen. Vielleicht hatte auch er sich schlafen gelegt.
    Leise schlich Tahn zur Tür und öffnete den Riegel.
    »Wo gehst du hin?« Miras Lippen streiften beinahe sein Ohr. Ihre Stimme war so leise, dass niemand außer ihm sie hören konnte.
    »Manche Dinge tut man lieber allein«, erwiderte er, um ein natürliches Bedürfnis anzudeuten.
    »Beeil dich«, sagte sie.
    Tahn trat hinaus in die kalte Nachtluft. Die Pferde wurden unruhig, als er an ihnen vorbeiging. Er schlich ein paar Schrit te weit zu der Lichtung oberhalb der Schlucht. Dort blieb er stehen und blickte zum nächtlichen Himmel. Sterne funkelten wie die winzigen Glassteinchen in Hambleys feinsten Tischdecken. Sein Atem bildete Wölkchen, und an niedrigen Büschen und wildem Salbei hingen Tautröpfchen wie gefrorene Tränen. Er schaute nach Osten und ließ die Gedanken einfach schweifen, wie er es immer tat. Tief in den fernen Himmel ließ er sie wandern, und er hatte den Eindruck, als versuchten seine Gefühle und Hoffnungen ebenso Gestalt anzunehmen wie die willkürlich angeordneten Sterne. Sein Blick folgte den Umrissen der Konstellationen, die er teils aus Ogeas Geschichten kannte, teils aus Erinnerungen, deren Quelle ihm verschlossen war. Das Mindere Licht stand hoch am Himmel, hell und klar. Der bleiche Rand der dunklen Hälfte wirkte wie ein gespenstisches Phantom.
    Tahn schloss die Augen und ließ die Gedanken noch weiter umherstreifen. Er stellte sich die Sonne vor, die das Mondlicht hervorrief, ihre Wärme und ihr Licht, die Gewissheit, mit der sie ihrem ruhigen Pfad über den Himmel folgte. Er malte sich aus, wie sich die Farben am östlichen Horizont veränderten, von Schwarz über Violett und dunklem Meerblau bis hin zur Farbe klaren, flachen Wassers. Er sah das Flackern vor sich, das ihm in die Augen stach, wenn er direkt in ihr mächtiges Licht schaute. Er stellte sich vor, wie die Farben erblühten, wenn das Sonnenlicht den Wald erreichte und seine Blätter, Nadeln und Stämme berührte. Und wie immer in solchen Augenblicken fühlte Tahn sich plötzlich wie ein Teil des Landes, wie eines von vielen Blättern, das die Sonne bald bescheinen würde. Seine Gedanken verschmolzen zu dem einmaligen Moment, da das Hohe Licht und neue Hoffnung aus der Nacht aufstiegen, Tag für Tag wiedergeboren voll stiller Kraft.
    Tahn öffnete die Augen und sah den dunklen Himmel und die weit verstreuten Sterne. Im Osten deutete ein violetter Hauch im tiefen Schwarz den nahenden Tag an. Stille Erleichterung erfüllte ihn, und Tahn sog tief die kalte Luft ein. Dann drehte er sich um, um zu den anderen zurückzukehren, und sah Vendanji zwanzig Schritt entfernt unter den Bäumen stehen. Der Sheson beobachtete ihn schweigend. Tahn ließ ihn dort zurück, doch auf dem Weg zum Haus fing Mira ihn ab.
    Die Fern beäugte ihn argwöhnisch. »Du hast nichts dergleichen getan.«
    »Woher willst du das wissen? Hast du mich beobachtet?«
    Ohne jede Verlegenheit sagte sie: »Ja.«
    Tahn musterte sie mit einem kurzen Blick. Er sah eine Art ruhender Energie in ihren Händen und Armen, als seien sie jederzeit bereit zuzuschlagen. Als er Miras Blick begegnete, fragte er sich wieder einmal, ob sie tatsächlich aus Naltus Fern stammte. Sie übte eine seltsame, hypnotische Wirkung auf ihn aus, und deshalb war er ein wenig

Weitere Kostenlose Bücher