Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
besorgt, was sie wohl sein könnte. Aber ihre geschmeidige Haut und Haltung waren schwer zu ignorieren und unwiderstehlich. Er sah sie im Dunkeln leicht lächeln, nur mit dem linken Mundwinkel. Sie hatte ein Grübchen in der Wange.
Tahn brachte selbst ein Lächeln zustande. »Wirst du mich bei allem beobachten, was ich tue?«
Sie neigte ganz leicht den Kopf zur Seite, eine Bewegung, die sowohl Neugier als auch eine Anspielung bedeuten konnte.
Hitze schoss ihm in die Wangen. Er wandte den Blick ab und ging nach drinnen zu seinen Freunden.
Das Dunkelfeuer verbreitete immer noch Hitze, doch es hatte mittlerweile fast alles Holz verbrannt. Wendra hatte kein Auge zugetan. Die Bilder des Tages ließen sie keinen Schlaf finden. Ließen sie frieren. Sie rollte sich noch näher am Feuer zusammen, um ein wenig Wärme zu finden. Es half alles nichts.
Ihr Kind war fort.
Dem Bar’dyn ganz allein ausgeliefert zu sein, als dieser in ihr Haus eingedrungen war, ihre Habe durchwühlt und alles verwüstet und sie dann in ihrem Winkel unter dem Dachboden gepackt hatte … Dieses Grauen ließ sich nicht in Worte fassen.
Augenblicklich hatte sie das Gefühl, noch einmal vergewaltigt worden zu sein, ganz am Ende ihrer Schwangerschaft – beim ersten Mal war ihr Kind gezeugt und beim zweiten Mal geraubt worden. Wendra hatte das Gefühl, als bloßes Gefäß missbraucht worden zu sein. Diese brutale Missachtung brannte in ihrem Innersten.
Das galt jedoch nicht für das kostbare Leben, das die Bestie ihr entrissen und in die Regennacht verschleppt hatte. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie ihre erste Vergewaltigung ungeschehen gemacht, ja – doch sie hatte das Kind, das sie trug, schließlich angenommen, sogar voller Hoffnung. Immer wieder hatte sie sich dabei ertappt, wie sie vor sich hin summte und Gedanken nachhing, wie es wohl wäre, Mutter zu sein. Sie hatte sich auf diesen Tag gefreut.
Die meisten Leute verachteten sie. Manche wussten auch einfach nicht, was sie zu ihr sagen sollten, und mieden sie aus diesem Grund. Aber Wendra war allmählich wieder sie selbst geworden und hatte ihr Lächeln und ihre Fröhlichkeit bei den alltäglichen Pflichten zurückgewonnen. So hätten ihr Vater und ihre Mutter es auch gemacht. Wenn sie eines von ihnen gelernt hatte, dann, dass das Leben oft schreckliche Veränderungen brachte. Wie man damit lebt, entscheidet über den Wert und das Glück dieses Lebens.
Wendra war das gelungen … bis die Stille über sie hergefallen und ihr das Kind aus dem Schoß gerissen hatte.
Das Grauen dieses Raubs schnürte ihr die Kehle zu, während sie dalag und ins Dunkelfeuer starrte. Sie konnte die groben Hände des Bar’dyn noch an ihren Knöcheln spüren, hörte ihn mit kehliger, gurgelnder Stimme Befehle erteilen, als verstünde er etwas vom Gebären. Sie fühlte, wie das Baby in die Welt hinausglitt, wusste, wer es dort empfing, und dieser Augenblick war schmerzlicher als alles andere.
Sie hätte etwas unternehmen sollen, aber das hatte sie nicht vermocht.
Und dann war Tahn gekommen.
Wendra war halb von Sinnen gewesen vor Angst und Schmerz, aber sie glaubte, gesehen zu haben, wie ihr Bruder einen Pfeil auf den Stilletreuen anlegte – und dann den Bogen sinken ließ, ohne zu schießen. Bei dieser Erinnerung ballten sich Verwirrung und Wut in ihrem Magen. War Tahn vom Anblick des Bar’dyn so verängstigt gewesen? Waren seine Freunde so schnell hereingestürmt, dass er befürchtet hatte, einen von ihnen zu treffen? Sie konnte sich nur verschwommen erinnern, aber der Gesichtsausdruck ihres Bruders stand ihr deutlich vor Augen. Er hatte qualvoll beschämt ausgesehen, als litte er unter irgendeiner unbestimmten, zutiefst persönlichen Scham.
Das stand nun zwischen ihnen, und sie glaubte nicht, dass sie einfach darüber hinweggehen konnte, so sehr sie Tahn auch liebte. Ehe Balatin zur letzten Ruhe gegangen war, hatte er ihnen klargemacht, dass sie beide vor allen Dingen zusammenhalten mussten. Doch es würde dauern, bis diese Wunde heilte. Irgendwann, das wusste sie, würde sie in der Lage sein, ihm zu verzeihen. Aber nicht heute. Ihr Körper brannte noch vom Verlust eines Teils seiner selbst.
Der einzige andere Gedanke, der sie noch beschäftigte, war die Frage, weshalb der Sheson sie mitgenommen hatte. Wollte er nur, dass sie und Tahn zusammenblieben? Wäre es gefährlich für sie gewesen, im Helligtal zu bleiben? Diese Fragen brachten vorübergehend Erleichterung von den bittersten Gedanken,
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