Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
herauszuholen. Der Brunnen war zu schmal für Erwachsene, zu gefährlich für Kinder. Haleys Sturz hatte lose Steine der Brunnenummauerung auf ihn hinabfallen lassen, so dass er halb im stehenden, flachen Wasser am Grunde des Brunnens begraben gewesen war. Stunden später hatte es zu regnen begonnen, so dass der Fluss angestiegen war und damit auch das Wasser des Brunnens, der von einem unterirdischen Zufluss gespeist wurde. Sie hatten alle zugesehen, wie das Wasser gestiegen war und Haley geweint hatte. In Panik hatten Männer Stricke heruntergelassen, die Haley nicht fest genug umklammern konnte, um aus den Steinen hervorgezogen zu werden. Am Ende hatte ihn das Wasser vollkommen bedeckt …
»So habe ich mich in der Dunkelheit gefühlt«, sagte Sutter. »Mich hat noch nie etwas härter an der Brust getroffen als die Wucht dieser Explosion, aber ich würde lieber zwanzig solcher Schläge abbekommen, als noch einmal die Verzweiflung durchzumachen, die mir in den Verstand gekrochen ist, als mich diese Schwärze umklammerte …« Dann lächelte der Rübenbauer schwach. »Gebt mir einfach meine Wurzeln zurück.«
»Der Schleier wird schwächer«, sagte Vendanji in unheilverkündendem Ton. »Die Ersten haben die Verse der Verlassenen geschaffen, um einen Schleier zu weben, der das Böse zurückhält. Er wird von den Leiholan in der Discantus-Kathedrale behütet und gesungen. Er ist so angelegt, dass er alle hemmt, die Quietus ergeben sind, aber vor allem diejenigen, die in der Lage sind, aus dem Willen zu schöpfen. Deshalb haben wir für einige Zeit nur Bar’dyn im Land gesehen. Zephoras Entkommen ins Licht der Menschen stellt eine ungeheure Bedrohung dar. Das bedeutet, dass auch andere Draethmorte bald die Hand passieren könnten.«
»Es heißt noch mehr als das«, fügte Grant grimmig hinzu. Er sah erst Vendanji an und dann Wendra. »Es bedeutet, dass die Verse irgendwie beschädigt worden sind – oder dass die Leiholan versagen.«
Tahns Schwester bedachte den Verbannten mit einem eisigen Blick. Sie schien seine Worte als Vorwurf aufzufassen.
Vendanji antwortete nicht auf Grants düstere Vermutung. Stattdessen wandte er sich wieder Tahn zu. »Und du? Bist du entschlossen, dich von nun an weiterhin so gut zu halten, wie du es am Tillinghast getan hast?«
Was für eine Wahl hatte er schon? Er biss die Zähne bei dem Gedanken zusammen. Aber da er hier in Gesellschaft von Sutter und Braethen und, in geringerem Maße, Wendra saß, wurde ihm bewusst, dass er tun würde, was er immer getan hatte. Er würde die Worte sprechen, in den frühesten Augenblicken der Dämmerung aufstehen, während die Welt noch im Dunkeln lag, und sich den Sonnenaufgang vorstellen, der den Himmel erhellte. Und obwohl er keinen Grund dazu hatte, zog er schwachen Trost aus diesen Mustern seines Lebens.
Er erwiderte Vendanjis strengen Blick, raffte all sein Selbstbewusstsein zusammen und sagte: »Ich werde mein Bestes geben.«
»Dann gib mir deinen Stock«, erwiderte Vendanji.
Tahn reichte den Nebelbaumast an den Sheson weiter, der ihn ergriff und zwei Mal mit nach oben gewandten Handflächen anhob. Dann schlang er die Finger darum und schloss die Augen. Das Holz begann sich zu verformen und in den Händen des Willenslenkers zum Leben zu erwachen. Langsam drehte es sich und bewegte sich, als wäre es lebendig, verzog sich dann aber zu einer erkennbaren Form. Binnen weniger Augenblicke war aus dem Ast ein geschmeidiger Bogen aus tiefschwarzem Nebelholz geworden.
»Da der Zweig gerade erst von einem lebenden Baum abgefallen ist, durchströmt ihn noch das, was die Erneuerung nährt.« Vendanji reichte Tahn den Bogen. »Ich habe den Nebel darin versiegelt und so dem Ast ewige Lebenskraft verliehen. Er wird dir gute Dienste leisten, wenn du ihn zu einem statthaften Schuss spannst.«
Tahn bewunderte einen Moment lang seinen neuen Bogen. Dann kehrten seine Gedanken dorthin zurück, wo sie durch Miras Rückkehr von der Klippe unterbrochen worden waren: »Was heißt ›Quilleszent‹?«
Vendanji sah ihn durchdringend an. »Lass uns ein andermal darüber sprechen, Tahn. Freu dich an dem Wissen, dass du den Tillinghast überlebt hast. Was auch immer nun kommt, wird nicht unangefochten bleiben. Dies alles ist machtvoll und wird Quietus sicher erzürnen. Lass uns für den Augenblick ausruhen.« Damit ließ der Sheson sich auf die Seite sinken und schloss die Augen.
Er hat immer noch Geheimnisse. Nun gut – jetzt habe ich selbst welche. Tahn
Weitere Kostenlose Bücher