Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
darüber noch, weil die älteren Kinder einen eindeutigen Vorteil haben würden, und so beschränkte der König das Rennen auf diejenigen, die zwölf Jahre alt oder jünger waren.«
Penit schüttelte Wendras Hand, um sie dazu zu bringen, ihn anzusehen. »Ich kann wirklich schnell rennen, weißt du? Wenn ich gewinne, kann ich ihnen vielleicht alles über die Bar’dyn erzählen. Dann können sie ihre Armee ausrücken lassen, um deinen Bruder zu retten.«
Bei Tahns Erwähnung durchzuckte Wendra eine schmerzliche Erinnerung. Sie hoffte, dass er Decalam schon unbeschadet erreicht haben würde, wenn sie dorthin gelangten.
»An den Palastmauern ist bis heute die Markierung der Rennstrecke zu sehen«, fuhr Shanbe fort, »und Kinder, die diese Geschichte hören, laufen entlang jener Wände um die Wette.« Der Ta’Opin senkte die Stimme und fuhr in ernsterem Tonfall fort: »Die Regentin hat einen Termin für den Lesherlauf ausrufen lassen … und sie hat das Große Mandat einberufen.«
Wendra erschauerte angesichts der Erwähnung des Großen Mandats. »Warum?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Shanbe. »Ich war unterwegs, um verschiedene Städte und Dörfer zu besuchen, Instrumente zu sammeln und nach Sängern Ausschau zu halten.« Er bedachte sie mit einem wissenden Blick. »Die Botenvögel sind an Orte gelangt, an denen ich mich aufhielt, und die Nachricht hat sich rasch herumgesprochen.«
Sie schwiegen alle eine Weile und schienen darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte.
Dann begann der Ta’Opin erneut: »Aber der Lesherlauf ist nicht nur ein Wettbewerb, Junge. Es bedeutet etwas, an diesem Rennen teilzunehmen. Du tätest gut daran, das nicht zu vergessen.«
»Das werde ich nicht«, sagte Penit, aus dessen Worten immer noch freudige Erregung sprach.
Wendra ließ das Gespräch über das Rennen ein Ende nehmen und sah sich nach den Instrumenten und Pergamentblättern um, die beiseitegeschoben worden waren, um Platz für sie zu schaffen. Sie erinnerte sich, dass weitaus mehr auf Shanbes Wagen gelegen hatte, als sie ihn vor ein paar Tagen gesehen hatte.
»Was ist aus Eurer Fracht geworden?«, fragte sie.
»Meine Fracht ist noch immer auf dem Wagen«, antwortete Shanbe, und das Lächeln, das auf seinem Gesicht lag, war ihm so deutlich anzuhören, als ob er laut gelacht hätte.
»Ja, aber nicht alles«, beharrte Wendra.
»Da habt Ihr recht«, räumte der Ta’Opin ein. »Ich musste einen Teil davon in den Hügeln verstauen, damit Ihr Euch ausruhen konntet. Aber macht Euch …«
»Shanbe, das könnt Ihr nicht tun! Diese Instrumente waren alt, sie werden …«
»… nur keine Sorgen. Ich habe immer noch ein altes Instrument dabei.« Der Kutschbock knarrte. Diesmal reckte Wendra den Kopf im richtigen Winkel, um sein Gesicht sehen zu können. »Nichts auf diesem Wagen ist so wichtig wie Ihr, Anais. Ich glaube, das wusste ich schon, als Ihr am Feuer in mein Lied eingestimmt habt. Deshalb habe ich so getan, als würde ich abfahren, und bin Euch dann in die Berge gefolgt, in die der Wegelagerer Euch verschleppt hat.« Er hielt inne, und seine Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne: »Ich habe solche Klänge in meinem ganzen Leben noch nicht gehört. Ich habe sie auf Pergament in verschiedenen Variationen niedergeschrieben gesehen, aber immer dieselben Motive, dieselben Verläufe, dieselben traurigen Melodien …«
»Wie konntet Ihr denn hören …«
»Musik ist eine Antwort, Anais«, sagte er ehrfürchtig. »Eine Antwort auf das, was sich in unserem Herzen befindet. Einige haben diese Gefühle auf Pergament gebannt. Nicht genau auf die Art, wie Ihr es getan habt, aber doch so, dass ich ihre traurige Schönheit erkannt habe … und die Gefahr, die ihnen innewohnt.« Er zügelte die Pferde und brachte den Wagen zum Stehen. Dann drehte er sich ganz um, stellte die Füße auf die Ladefläche des Wagens und sah auf Wendra hinab, forderte ihre Aufmerksamkeit ein. Er verschränkte die Finger, beugte sich vor und stützte die Arme auf die Knie. »Ihr werdet mir jetzt genau zuhören wollen, Anais. Denkt zurück, dann erinnert Ihr Euch gewiss an eine Zeit, in der es Euch so schien, als würden Eure Lieder mehr tun, als Euch nur die Zunge zu kitzeln – eine Zeit, in der sie mehr bewirkten, mehr auslösten . Macht Euch nicht die Mühe, mir davon zu erzählen, und versucht nicht, es vor Euch selbst zu verleugnen.« Shanbe sah Penit an, als versuche er zu einem Schluss darüber zu gelangen, ob er
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