Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
Grant regte sich in der Brust des Sodalen. Was hatte er getan, um diese Strafe zu verdienen?
Grant deutete nach rechts und lenkte sein Pferd nach Südosten. Sie folgten dem Verbannten einen kurzen Hang hinab in eine unscheinbare Ebene, die sich in einem Muster grauweißer Erde, die nur spärlich von Salbei bewachsen war, vor ihnen erstreckte. Hundert Schritt vom Fuße des Hügels entfernt stand ein einsamer Baum, an dessen Zweigen selbst die Erinnerung an seine Blätter abgestorben war. Der Stamm erhob sich als sanft geschwungenes helles Holz wie ein sonnengebleichter Knochen. Dicke Äste schlängelten sich vom Stamm weg und endeten in gezackten Krümmungen, als ob sie vor langer Zeit abgebrochen wären. Die nackten Zweige boten keinen Schatten vor dem Hohen Licht, das sogar in diesen frühen Augenblicken des Tages schon heiß auf sie herabschien. Braethen wurde zum ersten Mal bewusst, dass die Hitze im Mal genauso sehr aus der Erde aufstieg, wie sie vom Himmel herabbrannte, als könnte der Boden das Sonnenlicht nicht gebrauchen und würde es nur für einen Moment auffangen, bevor er es wieder losließ.
Grant hielt an und glitt geschmeidig aus dem Sattel. Er ging die paar Schritte zum Baum hinüber; eine Höhlung war direkt in den Stamm geschnitten. Dort blieb der Mann kurz stehen, sah zu dem Baum auf, wie Braethen einen alten Freund angeschaut hätte, wenn auch einen, den er gern vergessen hätte. Dann hielt Grant den Kopf an das Loch und spähte hinein. Als er zurücktrat, war sein Gesicht zu einer derart hässlichen und schmerzvollen Grimasse verzerrt, dass Braethen sich von dem Anblick abwandte.
Sowohl Mira als auch Vendanji stiegen ab und machten Anstalten, zum Baum zu gehen. Grant hob die Hand, um sie aufzuhalten. »Nein. Für die Wiege bin ich verantwortlich.« Er wartete noch einen Moment, und sein Gesicht nahm langsam wieder den gleichmütigen Ausdruck an, den Braethen den Verbannten in seinem Haus hatte zur Schau tragen sehen. Dann blickte Grant noch einmal in den ausgehöhlten Baum und griff hinein. Mit einem Ruck packte er etwas und riss es aus dem Loch hervor. Seine eiserne Faust hielt eine Schlange umklammert, die sich in seiner Hand wand. Grant verzog die Lippen, bevor er das Tier einfach so fest zusammendrückte, dass es sich bald nicht mehr rührte. Die tote Schlange hing schlaff herab, aber der Verbannte schien nicht willens zu sein, seinen Würgegriff um das Reptil zu lösen.
Braethen ließ sich vom Pferd gleiten und ging zu Mira und Vendanji hinüber, die Grant beobachteten. Vielleicht hegte der Mann Abscheu vor Schlangen. Schließlich ließ Grant das leblose Geschöpf auf den trockenen Boden fallen; die Schlange landete mit einem dumpfen Geräusch. Hand und Finger des Verbannten waren blutbefleckt. Er betrachtete das Blut, bevor er sich wieder dem Baum zuwandte. Plötzlich dämmerte es Braethen: Das hier war Grants Wiege, die er als Teil seiner Strafe bezeichnet hatte, der Ort, an den die kleinen Kinder gebracht wurden, damit er entweder ein Zuhause für sie fand oder sie selbst aufzog.
Zärtlich senkten sich die Arme des Mannes in die Baumhöhle hinab und zogen einen Säugling daraus hervor. Sogar von dort, wo er stand, sah Braethen die bleiche Haut des Kindes und die dunklen Schatten um Augen und Mund. Grant kniete sich auf den harten Boden unter dem abgestorbenen Baum und wiegte das tote Kind in den Armen.
Keiner der anderen rührte sich. Sie gedachten einen Moment lang schweigend eines beendeten Lebens, für das nie Hoffnung bestanden hatte. Der Gedanke, wie der Säugling mit den Armen geschlagen haben musste, ohne zu wissen, dass sich in der Nähe die Schlange zusammengerollt hatte, entsetzte Braethen. Er verschloss die Augen vor dem Bild. Ein ferner Teil von ihm wollte das Kind rächen, aber der Schuldige lag bereits tot zu Grants Füßen. Ein Gefühl schrecklicher Hilflosigkeit überkam ihn. Wie tröstlich es auch für ihn selbst sein mochte, zum Schwert zu greifen, es war nun für immer zu spät, etwas an dem Ende zu ändern, das in den Armen des Verbannten lag. Braethen dachte an Wendra und fragte sich, wie tief ihre eigene Wunde gehen musste, wie sehr ihr eigenes Mal sie gezeichnet hatte. Wie sie wohl mit dem Verlust rang, an dem sie nichts ändern konnte?
Braethen machte unwillkürlich einen Schritt vorwärts, dann noch einen. Die unverwirklichten Möglichkeiten des Säuglings belasteten seine Gedanken ebenso wie die Ungerechtigkeit und Grausamkeit, ein Kind so auszusetzen und
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