Das Gift der alten Heimat
Fräulein Kerbel. Denken Sie darüber einmal nach. Sie haben doch auch noch andere Kundinnen, wenn Sie, wie Sie sagen, momentan im Druck sind.‹ – Und so sind sie alle, immer vertrösten sie mich, drohen sie mir. Sie wissen ja gar nicht, wie wichtig ein paar Mark sein können.
Trotzdem werde ich meinem Besuch am Abend einen guten Aufschnitt vorsetzen können. Frau Wagner, die Metzgermeisterin, hat sich noch einmal breitschlagen lassen und mir den Aufschnitt gestundet. Allerdings will sie sich dafür von mir ein Kleid zum halben Preis machen lassen. Da ich in einer Zwangslage bin, mußte ich darauf eingehen. Was sollte ich machen? Aber mein Onkel wird davon nichts merken. Er soll sich nach Möglichkeit bei mir wohl fühlen.
Morgen kommt er. Ich habe ein bißchen Angst davor. Ich kenne ihn ja gar nicht …«
Oder:
»Jetzt ist er schon einige Tage da, und ich komme kaum mehr zu meinen Tagebucheintragungen. Das soll nicht heißen, daß es mir zuviel ist mit ihm, Gott bewahre! Aber mein Tagebuch ist mein Geheimnis, und ich kann deshalb nur schreiben, wenn er schon im Bett liegt. Er ist ein wunderbarer Mann! Manchmal poltert er über Gott und die Welt, doch ich sehe hinter seiner rauhen Schale das goldene Herz in seiner Brust. Täglich stehe ich vor meiner neuen Kühltruhe! Und vor meinem Fernseher! Was mache ich nur, um meine Dankbarkeit zu zeigen? Erst habe ich ja geschimpft, aber inzwischen würde ich jedenfalls die Kühltruhe um keinen Preis mehr hergeben wollen. Sie ist ja so praktisch und quillt schon über von dem, was er täglich anschleppt. Davon werde ich, wenn ich es mir richtig einteile, mindestens ein Jahr lang leben können. Dann allerdings … Man muß ja auch Geld haben, um eine solche Truhe wieder zu füllen.«
Oder:
»Was heute passiert ist, ist eine himmelschreiende Gemeinheit! Ich mußte weinen. Hoffentlich hat er nichts gemerkt. Meine Augen waren ganz verquollen, ich habe sie mir aber mit kaltem Wasser gewaschen, ehe er nach Hause gekommen ist.
Frau Malmut, das niederträchtige Weib, hat angerufen und die Stoffe für sie und ihre Töchter zurückverlangt, die ich bereits zugeschnitten hatte. Eine Bezahlung für meine Arbeit, die ich mit den Stoffen schon hatte, lehnte sie ab. Ich soll prozessieren, sagte sie und lachte mich praktisch aus.
So ist es halt im Leben, Kirchenmäuse können nicht prozessieren. Im ersten Moment war ich ja versucht, Onkel Johann den Fall zu unterbreiten, denn er hätte das Geld, das dazu nötig wäre. Er könnte sogar die ganze Adalbertstraße kaufen und auch den Malmuts einheizen, aber ich will ihn nicht für mich einspannen. Wie sähe denn das aus? Nein, das kommt nicht in Frage! Den Ärger mit diesem Weib werde ich vergessen, die Freude über meine Kühltruhe und meinen Fernseher aber bleibt bestehen. Onkel Johann ist ein unvergleichlicher Mann, ich bin stolz, ihn in meiner Verwandtschaft zu haben. Ich verehre ihn, ich liebe ihn, aber ich kann es ihm nicht zeigen. Das macht mich traurig.«
John Miller hatte all diese Zeilen tief in sein Herz geschrieben. Er war gleich am nächsten Morgen zum Metzgerladen an der Ecke gegangen und hatte die fette Person, die ihm routiniert entgegenlächelte, angeherrscht: »Sind Sie Frau Wagner?«
»Ja.«
»Hier!« Er warf ihr einen Fünfzigmarkschein auf die Theke. »Von Fräulein Kerbel! Es ist das letzte Geld von ihr für Sie! Und das Kleid, auf das Sie reflektieren, können Sie sich in Hongkong oder Taiwan machen lassen! Dort bewilligt man Ihnen den Hungerlohn, den Halsabschneiderinnen wie Sie herausrücken!«
Und er hatte die erstarrte Metzgersfrau einfach stehen lassen.
Auch beim Schrotthändler Malmut fuhr er vorbei. Das Firmengelände lag zwar in der Nähe der Adalbertstraße, aber Malmut selbst bewohnte eine Villa am Rand von Bochum-Hamme. Schrotthändler sind eine eigene Sorte von Menschen. In den meisten Fällen kommen sie von ganz unten, machen viel Geld, schwimmen dann oben und gehen oft auch rasch wieder pleite. Auch Alfred Malmut hatte seine goldene Zeit schon hinter sich. Bis zum Konkurs hatte er allerdings noch eine Gnadenfrist, die er dazu benützte, Werte beiseitezuschaffen.
Es traf sich gut, daß Alfred Malmut noch nicht ins Geschäft gefahren und deshalb zu sprechen war. Frau Malmut, nach der Johnny Miller ursprünglich das Dienstmädchen gefragt hatte, schlief noch. Es war neun Uhr. Um diese Zeit liegen solche Damen noch im Bett, dachte Johnny grimmig. Zur Körperpflege brauchen sie wenig Schlaf in der
Weitere Kostenlose Bücher