Das Gift der alten Heimat
sie stockend die Zeilen. Doch dann überzog ihr Gesicht eine solche Verblüffung, ein solches Erstaunen über ein unfaßbares Rätsel, daß sie die Zeilen noch einmal lesen mußte, um den Inhalt voll zu begreifen.
›Meine liebe Emma!
Sei nicht böse, wenn ich so plötzlich wieder abfahre. Ich möchte nicht, daß Du mir dankst, denn Du hast in deinem Leben lange genug den Kopf beugen müssen, um kleinerer Dinge willen. Wenn ich Dir eine Freude mache, so ist das auch für mich eine Genugtuung, denn ich habe bei Dir gesehen, daß der Mensch zufrieden sein kann, auch wenn es ihm nur gelingt, das nackte Leben von einem Tag auf den anderen zu fristen. Das ist eine Mahnung für mich. Ich hatte zu lange vergessen, wie weh Armut tut. Als ich vor dreißig Jahren nach Amerika auswanderte, war ich auch ein armer Hund, gekleidet in einen Anzug, den ich mir von meinem älteren Bruder ohne sein Wissen ›auslieh‹. Drüben hatte ich Glück, ich wurde reich, sehr reich, und vergaß die Not, aus der ich kam. Ich konnte mir keine Armut mehr vorstellen. Das ist die große Lehre, die ich bei meinem Aufenthalt in Deiner Wohnung gewonnen habe.
Ich weiß, daß Du jetzt zwischen den Dingen sitzt, die Du Dir schon immer gewünscht hast. Aber sie sollen noch nicht alles sein. Du sollst ab heute ein anderes Leben führen können. Ich habe Dir deshalb auf Deinen Namen in der Bongardstraße ein großes Haus gekauft. Die ganze Unterseite wird nach den Plänen des Architekten Weiher zu einem großen Geschäft umgebaut, mit fünf großen Schaufenstern und einem geräumigen Atelier. Das wird Dein neues Modehaus sein. Mehr kann ich nicht tun. Es liegt jetzt an Dir, liebes Nichtchen Emma, das beste und eleganteste Modehaus Bochums aufzubauen. Weil Du zum Start Bargeld brauchst, habe ich Dir auch ein Konto eingerichtet. Die Dresdner Bank wird Dich benachrichtigen, über wieviel Du verfügen kannst.
Hab keine Angst, Emma, vor der Aufgabe, die es zu bewältigen gilt. Du schaffst das, auch wenn es Dir im Moment noch völlig unmöglich erscheint. Du hast Müller- bzw. Millerblut in Dir. Ich habe Dich genau beobachtet, tief in Dir ruhen Kräften, über die Du selbst erstaunt sein wirst. Sie müssen nur geweckt werden, und dazu habe ich jetzt – glaube ich – den Anstoß gegeben. Ich behalte Dich im Auge, auch von Amerika aus. Und merke Dir, wenn Deine Schultern mal wirklich zu schmal werden sollten, werde ich zur Stelle sein. Ich glaube aber nicht an diese Gefahr. Siehst Du, soviel halte ich von Dir.
Und nun leb wohl, liebe Emma. Blick nicht mehr zurück. Vorwärts! heißt die Parole. Schaffe! Sei fröhlich! Letzteres ist der größte Wunsch, dessen Erfüllung ich mir von Dir wünsche. Wenn ich einmal wiederkomme aus Amerika, will ich am Bochumer Bahnhof schon hören: Das erste Modehaus ist das von Emma Kerbel!
Es grüßt Dich Dein Onkel Johann.‹
Emma Kerbel saß noch wie betäubt zwischen den Gaben, als es abermals an der Flurtür schellte.
Noch etwas, dachte sie. Ich bekomme einen Schlag, soviel Glück kann ich ja gar nicht auf einmal tragen.
Sie schob den Brief in ihre Schürzentasche und eilte zur Wohnungstür. Draußen stand aber kein Bote im Kittel, sondern ein Fremder im Trenchcoat, der sie forschend ansah, als suche er in ihrem Gesicht irgendeine Ähnlichkeit.
»Bin ich recht bei Fräulein Emma Kerbel?« fragte er.
»Ja.«
»Mein Name ist Paul Müller, aus Rheinstadt. Wir sind verwandt, ich bin ein Vetter …«
Emma Kerbel schlug die Hände zusammen und riß die Tür auf.
»Vetter Paul!« Sie lachte ein wenig gezwungen. »Ich kann mich entsinnen. Als Kinder – du warst damals acht und ich sechs Jahre, da hast du mir einmal meinen Zopf abgeschnitten.« Sie zog Paul Müller ins Zimmer.
Mit einem Blick hatte er alles erfaßt und drehte sich um.
»Onkel Johann ist bei dir! Ich sehe es an den Geschenken! Emma, wo steckt er? Ich muß ihn sprechen!«
Emma Kerbel zog den Brief aus der Tasche und gab ihn Paul.
»Fort«, sagte sie traurig. »Vor einer Viertelstunde brachte ein Gepäckträger den Brief und holte die Koffer des Onkels ab.« Sie wischte sich über die Stirn. »Mir ist noch immer, als ob ich träume …«
Paul Müller las die Zeilen und ließ das Blatt sinken. Er setzte sich auf den Küchenstuhl und stützte die Arme auf.
»Dir richtet er ein großes Modehaus ein – mir baut er eine neue Fabrik. Er kommt plötzlich, und er geht plötzlich. Wir haben nie etwas von ihm gehört, und er wälzt unser ganzes Leben um. Emma,
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