Das Gift der Engel
Pfad.
Wenn Alban heute Morgen jemand prophezeit hätte, dass er noch am selben Tag eine solche Wanderung unternehmen würde, hätte er ihn für verrückt erklärt. Aber die Hoffnung, vielleicht noch heute einen Teil des Rätsels zu lösen, beflügelte ihn so sehr, dass er über seine mittlerweile recht heftig gewordenen Schmerzen in den Beinen und im Rücken hinwegsah.
Um sie herum gab es nichts als dicht an dicht stehende Bäume, darunter eine dicke weiche Schicht gelber Blätter. Der Weg war eine schmale Schneise. Ein Gewirr aus sich überkreuzenden kahlen Ästen verbarg den Himmel.
Alban sah auf seine Armbanduhr. Er hatte das Gefühl, der Tag sei schon zweimal herumgegangen, dabei war es erst halb vier. Noch etwa zwei Stunden hatten sie zur Verfügung, bis die Dunkelheit hereinbrach.
Es war still geworden. Nur das gedämpfte Rascheln ihrer Schritte war zu hören. Manchmal krachte etwas in den Ästen oder eine Eichel fiel zu Boden. Ab und zu mussten sie über quer liegendes totes Holz steigen.
»Was machen wir, wenn es hier nichts gibt als Wald, Wald und noch mal Wald?«, fragte Simone irgendwann. »Wenn die Dichterin einfach nur sagen wollte, dass sie hier oben mit einem Geliebten unterwegs war?«
Alban wusste keine Antwort. Der Weg wirkte so einsam, als gäbe es keinen entlegeneren Ort auf der ganzen Welt. Die fernen Geräusche aus dem Rheintal, die er auf der Wanderung bis zum Parkplatz immer noch wahrgenommen hatte, waren nicht mehr zu hören. Er versuchte sich Dagmar Dennekamp vorzustellen. Wie sie diesen Weg gegangen war. Eine Frau hier ganz allein …
Hatte sie wenigstens eine Taschenlampe dabeigehabt? Sicher nicht. Sie hatte sich bestimmt klare Vollmondnächte ausgesucht. Wie mochte es dann hier aussehen? Im Sommer, wenn dichtes Laub die Bäume bedeckte?
Es war sicher noch viel verwunschener. Man war vollkommen von der Nacht eingehüllt. Der Mond mochte irgendwo hinter den Ästen am Himmel stehen, aber sein Licht traf den Weg nur als ferne, silbrige Ahnung. Wenn überhaupt.
Der Pfad, der bisher geradeaus verlaufen war, ging in eine große Biegung über. Sie hatten gerade ein Stück der Kurve hinter sich gebracht, da bemerkte Alban so etwas wie eine weitere Spur, die nach rechts zwischen den Bäumen hindurchführte und sich irgendwo verlor.
Er blieb stehen. Es war nicht zu erkennen, ob der Pfad, wenn es überhaupt einer war, weiterging als zehn oder zwanzig Meter.
»Wollen wir einfach mal da reingehen?«, fragte Simone.
Alban überlegte. Wenn sie jede Abzweigung, an der sie vorbeikamen, ausprobierten, würde sie das zu lange aufhalten.
»Wir sollten erst mal sehen, wohin der Hauptweg führt«, sagte er. »Gehen wir lieber noch ein Stück.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung. Es folgte eine weitere Kurve. Der Weg schien jetzt Schlangenlinien zu beschreiben. Außerdem stieg das Gelände deutlich an.
»Ich schlage vor, wir trennen uns. Du folgst dem Weg hier und siehst nach, ob du irgendwas entdeckst. Ich prüfe, ob das hinten an der Abzweigung wirklich ein Weg ist. In zehn Minuten treffen wir uns wieder hier.«
Simone nickte. »Alles klar.«
Alban stapfte zurück. Er bog in den schmalen Pfad ab. Obwohl es so eng war, dass die Äste an seinem Mantel schabten, glaubte er, dass es sich um einen richtigen Weg handelte. Und ein richtiger Weg hatte auch ein richtiges Ziel.
Stur folgte er der kleinen Schneise, die ihn mal nach rechts, mal nach links führte. Nach und nach veränderte sich etwas. Der Wald wurde lichter. Der graue Himmel wurde sichtbar, und dann trat Alban ins Freie. Er stand auf einer felsigen Terrasse. Der Ausblick ging auf bewaldete Hügel und Himmel. Kein Haus. Keine Stromleitung. Kein Zeichen von Zivilisation. Das Rheintal versteckte sich irgendwo.
Man könnte glauben, man wäre ganz allein auf der Welt, dachte Alban.
Der Pfad führte in kleinen Serpentinen steil den kahlen Berg hinunter, bevor er ein gutes Stück weiter unten wieder zwischen Bäumen und Büschen verschwand.
Stell dir vor, es ist Nacht, dachte Alban. Der Mond steht am Himmel. Hell, fast blendend. Die weiten Hügel wirken wie mit Silber überzogen. Kilometer über Kilometer nichts als rauschende Blätter.
Er kam auf einen weiten und freien Bergrücken, der nur mit kleinem Gesträuch bewachsen war. Der Mond schien sehr hell, und der plötzliche Anblick des freien, grenzenlosen Himmels erfreute und stärkte sein Herz. Die Ebene musste sehr hoch liegen, denn er sah ringsumher eine dunkle Runde von Bergen unter
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