Das Gift der Engel
hinein. Sie folgten einer leeren Fußgängerzone bis zu einem freien Platz mit Bäumen mit einem Springbrunnen und einem historischen Gebäude im Hintergrund. »Rathaus« stand unter dem Giebel.
Alban marschierte stramm weiter. Er spürte unter seinem Mantel eine sich langsam ins Unerträgliche steigernde Wärme. Er widerstand dem Drang, ein paar Knöpfe zu öffnen, denn er wollte keine Erkältung riskieren. Trotzdem drosselte er das Tempo nicht, sondern bog schnurstracks in eine weitere Straße ein. Sie näherten sich einer breiten Treppe, die in einen Fußgängertunnel unter Bahngleisen führte. Als er die Treppe auf der anderen Seite hinter sich gebracht hatte, musste er innehalten. Sein Herz raste, der Schweiß rann ihm die Schläfen hinunter.
»Bist du okay?«, fragte Simone, und ihre Stimme klang besorgt.
»Alles in Ordnung«, brachte er gepresst hervor und öffnete wenigstens die beiden oberen Knöpfe seines Mantels.
»Schau mal, was hier steht.« Simone deutete auf ein pfeilförmiges Schild. »Wanderweg nach Bad Neuenahr. Und zur Apollinariskirche. Hinaus aus des Lebens grauem Getriebe, dem Kreuze entgegen, vorbei an den stillen Bildern der Andacht …« Simone konnte den Text offenbar ebenfalls bereits auswendig. »Was sie wohl mit den Bildern gemeint hat?«
Alban, der sich wieder etwas gefangen hatte, lächelte triumphierend. »Die werden gleich kommen.«
Sie gingen in die Richtung, die das Schild ihnen wies. Kurz darauf kamen sie an einer kleinen Kirche vorbei, die Simone für die Apollinariskirche hielt. Doch Alban winkte ab. »Das ist nur eine kleine Kapelle.«
Die Straße endete in einem Wendehammer, von dem ein Fußweg weiter bergauf führte. Auf der linken Seite erhob sich eine steile, graubraune Felswand, auf der rechten versperrte eine Mauer aus Natursteinen die Sicht. Dahinter rauschte der Verkehr auf der Bundesstraße. Alban deutete auf etwas Weißes, das sich auf der linken Seite des Weges erhob.
»Nun, was ist das wohl?«, fragte er und konnte dabei einen oberlehrerhaften Tonfall nicht unterdrücken.
»Ein Heiligenbild?«
»Unten siehst du eine römische Zahl«, half Alban nach.
»Eine Eins.«
»Und oben, unter dem kleinen Dach, ist etwas dargestellt.«
Simone nahm das kleine Metallrelief in Augenschein, das auf der weiß getünchten Fläche angebracht war. »Menschen, die herumstehen«, stellte sie fest.
»Es sind nicht irgendwelche Menschen«, sagte Alban. »Zwei davon sind Pontius Pilatus und Jesus Christus. Die Szene stellt dar, wie Jesus zum Tode verurteilt wird. Es ist die erste Station eines Kreuzweges.«
Simone nickte. »Ach …«
»Der Kreuzweg führt zur Kirche hinauf. Er besteht insgesamt aus vierzehn Stationen. Jede Station stellt ein Ereignis der Passion Christi dar. Dagmar Dennekamp hat wahrscheinlich diese Darstellungen gemeint, als sie von Bildern der Andacht schrieb.«
Simone nickte. »Das passt. Die Frage ist nur, was der Rest bedeuten soll.« Sie schlug das Buch wieder auf. »Hinan wo der heilige Prediger mahnend wacht, und weiter den engen Pfad gegangen, wo Maria den Eingang zu deinem Reich, Geliebter, bewacht. Hast auch du einst den Weg des Stromes genommen, du Ferner, Engelsgleicher?«
»Wenn wir die Stelle mit Maria finden, haben wir den Schlüssel. Dahinter muss das liegen, was wir suchen.«
Die sechste Station lag in einer dramatischen Haarnadelkurve. »Veronika reicht Jesus das Schweißtuch«, erklärte Alban. Zum Glück habe ich auch eins, dachte er, zog sein Stofftaschentuch heraus und tupfte sich das Gesicht ab.
Die Mauer auf der rechten Seite war hier niedriger und gab den Blick auf den Rhein frei. Sie blieben stehen und betrachteten die Landschaft. Jenseits des Flusses erhob sich der Drachenfels als dunkler Schatten, und dahinter wellten sich die bläulichen Umrisse des Siebengebirges. Alban bedankte sich im Stillen für die Pause.
»Tief durchatmen«, sagte Simone. »Am besten, du beugst dich etwas nach vorne. Schau mal, so.«
Sie begann mit Dehnübungen. Alban verzichtete darauf, mitzumachen, sah ihr lieber zu und kämpfte gegen das heftige Verlangen, sich den Mantel vom Leib zu reißen.
»Weiter geht’s«, rief Simone und setzte sich wieder in Bewegung. »Meine Güte, was für eine Aussicht.«
Alban dachte, Simone meinte den Blick über das Rheintal, doch dann erkannte er die Apollinariskirche, die zum Greifen nah über ihnen aufragte. Es war ein Bau, der in einen Schauerroman gepasst hätte. Steile schlanke Türme, hochgezogene
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