Das Gift der Engel
die CD …«
Alban hielt inne. Es war ja nicht nur Musik auf der CD gewesen! Auch das Video. Der kurze Film mit der Sängergestalt. Ob es dem Einbrecher darum gegangen war, dieses Video zurückzubekommen? Damit nicht zu früh bekannt wurde, wer sich dahinter verbarg? Wer das Wunderkind war?
»Können wir jetzt bitte anfangen?«, fragte Kessler in die Runde. »Komm, Nikolaus, schnapp dir deine Geige. Ehe ich meine gute Laune verliere.«
»Einen Moment noch«, sagte Alban. »Eines will ich noch wissen. Wer ist denn der Zeuge, der Arne Zimmermann gesehen haben will?«
»Bitte«, sagte Stollmann, der offensichtlich langsam die Geduld verlor. »Letzte Woche ist die Probe schon wegen dieser Geschichte ausgefallen. Es wäre schade, wenn das heute wieder passieren würde.« Fiona nickte, sagte aber nichts.
»Nikolaus, jetzt lass es«, rief Kessler. »Er will ihn nicht nur gesehen haben, sondern er hat ihn definitiv gesehen. Und du glaubst doch nicht, dass ich dir weitere Einzelheiten verrate. Halt dich ein für alle Mal aus dem Fall heraus. Klar? Das ist mein allerletztes Wort.«
Als wolle er seinen Worten Nachdruck verleihen, stand Kessler auf und ging zu Albans Schreibtisch. Dort lag im Schein der Lampe die schwarze Mappe. »Hier ist sie doch drin, oder?«, fragte er und griff hinein. Er zog die Partitur heraus und legte sie in seinen Cellokasten.
Alban drehte sich und sah Stollmann und Fiona mit den Instrumenten auf den Knien auf ihren Plätzen sitzen. Einträchtig lächelten sie ihm entgegen.
Er seufzte und setzte sich ebenfalls. Es hatte alles keinen Zweck. Er hatte die Chance gehabt, Zimmermann zu entlasten. Es hatte nicht sollen sein. Nun gut. Dann würde das normale Leben eben wieder Einzug halten. Er hatte eine Menge Arbeit, war im Rückstand mit seinen CDs. Und irgendwann würde er vielleicht eine Aufnahme geschickt bekommen, auf der ein junger, bisher unbekannter, aber laut Plattenfirma sehr begabter Sänger etwas sang, was sich nach seiner Arie anhörte. Seine Arie …
Er bekam kaum mit, wie er mechanisch den Takt vorgab und sie zu musizieren begannen. Wenn die CD jemals erschien, würde er alles erfahren. Vielleicht war Zimmermann zu diesem Zeitpunkt noch nicht verurteilt, und es würde sich noch lohnen, alles neu aufzurollen.
Albans drei Mitspieler brachen ab und sahen ihn erstaunt an.
»Was ist los?«, fragte er.
»Du hast vergessen, die Wiederholung zu spielen«, sagte Kessler. »Deinetwegen sind wir rausgekommen.«
»Also gut«, sagte Alban. »Fangen wir noch einmal von vorne an.«
21
Alban saß an seinem Schreibtisch, umgeben von einer schwer definierbaren Musik, die an eine diffuse Klangwolke erinnerte. Vor ihm lag ein Blatt Papier, und er wollte mit dem gespitzten Bleistift in der Hand unbedingt etwas schreiben, aber es wollten ihm die richtigen Worte nicht einfallen. Er blickte auf und sah vor sich den Turm der CDs wachsen, langsam, aber sicher der Decke entgegen. Er beobachtete das Schauspiel staunend und fragte sich, ob die Säule durch das Dach stoßen würde, wenn sie oben angekommen war. Bevor es so weit war, wachte er auf.
»Mich würde wirklich mal interessieren, wer dieser obskure Zeuge ist«, sagte Simone und stellte die Kaffeekanne auf den Tisch.
Alban löste sich von seinen nächtlichen Bildern. »Gerhard hat sich richtig darin geaalt, dass er es mir nicht sagen darf. Und gleichzeitig ist er die ganze Zeit darauf herumgeritten, dass er dafür demnächst wohl befördert wird.«
Er wollte von seinem Brötchen abbeißen, überlegte es sich dann jedoch anders, legte es auf den Teller und nahm erst einen Schluck Kaffee.
»Und was willst du jetzt machen?« Simone setzte sich an den Tisch.
»Was wissen wir denn? Dort oben in den Hügeln hinter der Apollinariskirche gibt es eine Person, die Dagmar Dennekamp als ›Geliebten‹ bezeichnet. Wenn man die Sache mit dem ›Loblied Matthei‹ nach deiner Version deutet, hat dieser Mensch einmal in der Matthäuspassion mitgesungen. Außerdem ist er musikalisch oder auch allgemein künstlerisch begabt. Vielleicht fand Dagmar Dennekamp ihn gerade deswegen so anziehend. Vielleicht sind sie da oben in den Hügeln durch den Wald gestreift, und sie haben beide eine romantische Ader gehabt.«
»Und der Geliebte könnte auch ihr Mörder sein.«
»Es stellt sich die Frage, ob er in der Matthäuspassion auftrat oder ob er ganz allgemein ein Sänger ist, der die Matthäuspassion im Repertoire hat. Allerdings gibt es da ein
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