Das Gift der Engel
Gast, der in der Matthäuspassion mitgesungen hat. Er hieß ›Coro San Lorenzo‹.«
»Hat nicht der Beethovenchor gesungen? Das ist doch sonst üblich.«
»Der ›Coro San Lorenzo‹ ist ein Kinderchor. Er hat den Beethovenchor verstärkt. Für die Choräle. So wird das ja manchmal gemacht … Tut mir leid, andere Italiener finde ich nicht.«
»Woher kam der Chor?«
»Aus Palermo. Es war ein Chor aus Waisenkindern.«
»Und er ist extra wegen der Choräle in der Matthäuspassion nach Bonn gekommen?«
»Sie haben hier mehrere Konzerte gegeben. Auch in anderen Städten im Rheinland. Sie waren ungefähr drei Wochen unterwegs. Erinnern Sie sich denn nicht? Damals ist doch diese schlimme Sache passiert …«
»Welche schlimme Sache?«
»Ein Junge aus dem Chor ist entführt worden. Das hat die Konzerte überschattet.«
Alban, der das Gespräch bisher im Stehen geführt hatte, setzte sich und griff instinktiv zu einem seiner spitzen Bleistifte. »Eine Entführung? Hier in Bonn?«
»Nein, ich glaube, es passierte, als sie unterwegs waren. In der Eifel, soweit ich mich erinnere.«
»Kam der Junge ums Leben?«
»Wahrscheinlich. Haben Sie davon nichts gehört?«
»Wie lange ist das her?«
»Elf Jahre.«
»Wer hat das getan?«
»Keine Ahnung.«
Alban rechnete zurück. 1995. Dieses Jahr würde er nie vergessen. Es war das Jahr, in dem er Lea kennengelernt hatte. Das ganze Frühjahr und den ganzen Sommer hatten sie im Liebesrausch gelebt. Sie waren nach Salzburg gefahren, von da aus nach Wien und am Ende des Sommers noch an die Riviera.
»Ich war in diesem Jahr kaum in Deutschland«, sagte er. »Auf jeden Fall danke ich Ihnen sehr. Und es war mir eine Freude, wieder mal mit Ihnen zu plaudern.«
»Die Freude ist ganz meinerseits, Herr Alban.«
Er verabschiedete sich, legte auf, suchte Bernardis Nummer und wählte. Wieder nur der Anrufbeantworter. Alban stellte das Mobilteil auf die Station und starrte nachdenklich vor sich hin.
Er versucht, sich ein Leben jenseits der Mauer und der Wälder vorzustellen. Es will ihm nicht gelingen.
Es ist wohl die Angst, die mich bisher davon abgehalten hat, denkt er.
Und die Angst ist jetzt auch da. Er kann sie nur bezähmen, indem er sich vorstellt, wie die Frau auf der anderen Seite des Flusses auf ihn wartet.
Er fasst das beschriebene Blatt ins Auge. Sein Blick folgt den runden, blauen Buchstaben auf dem linierten Papier. Den Text kennt er längst auswendig.
Es muss schnell gehen.
Der Junge glaubt, sich zu erinnern, dass hinter dem Tor ein bewaldeter Abhang beginnt. Dort wird er sich vielleicht verstecken können. Aber dann muss er weiter. An den Fluss und auf die andere Seite.
Er steht von dem Stuhl auf, der am Fenster steht, sieht sich die Kleider an, die er auf dem Bett ausgebreitet hat.
Seine Hosen und ein paar Hemden sind zu einem langen Seil verknotet. Damit könnte er versuchen, aus dem Fenster zu klettern.
Was soll er tun, wenn er erst da unten ist? Das zweite Hindernis ist die Mauer. Wie soll er sie überwinden?
Der Junge sitzt da und denkt nach, doch ihm fällt nichts ein.
Er muss es machen wie in der Musik. Improvisieren. Darauf vertrauen, dass es schon irgendwie weitergeht, wenn man erst einmal den richtigen Weg eingeschlagen hat.
Plötzlich ist der Wunsch, dieses enge Zimmer, dieses Haus zu verlassen, ganz stark.
Am liebsten würde er es sofort versuchen.
Aber er muss geduldig sein. Warten.
Auf die Dunkelheit.
Es war wie bei den Matrioschkas, diesen russischen Holzfiguren. Kaum hatte man eine geöffnet, kam schon die nächste zum Vorschein. Nur dass es sich hier nicht um hölzerne Hohlfiguren handelte, sondern um Verbrechen. Ineinander verschachtelte, miteinander verzahnte Verbrechen.
Oder war es doch Einbildung? Purer Zufall? Hatte dieses mehr als zehn Jahre alte Verbrechen etwas mit dem Tod von Dr. Joch und Dagmar Dennekamp zu tun – ja oder nein?
Das Telefon klingelte.
»Dr. Schneider hier.«
»Guten Morgen. Ich habe schon alles erfahren. Es gibt einen Zeugen.«
»Ja.« Seine Stimme klang niedergeschlagen. »Ich glaube, jetzt können wir nichts mehr tun.«
»Wissen Sie, wie der Zeuge heißt?«
»Noch nicht. Es kann auch eine Weile dauern, bis ich das erfahre. Unter Umständen bis zum Prozess … Ich hatte wirklich geglaubt, wir würden es schaffen.«
Das Gespräch verlief im Sande. Sie verabschiedeten sich.
Alban fühlte sich leer. Wie ein Luftballon, aus dem man die Luft herausgelassen hat, dachte er. Er erhob sich.
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