Das Gift der Engel
verführerisch, unendlich leise.
Wie Elfenmusik.
Was Alban dabei am meisten bestürzte, war die Erkenntnis, dass Lea sang.
Sekunden später wachte er auf.
»Was willst du denn schon hier unten?«
Simone saß auf dem unteren Absatz der Treppe und war gerade dabei, ihre Joggingschuhe zu schnüren. Alban konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so früh herunterkommen war, dass er Simones Aufbruch miterlebt hatte.
»Ich konnte nicht mehr schlafen. Mir geht so vieles im Kopf herum.«
»Lass uns darüber sprechen, wenn ich zurück bin, okay?« Sie sprang auf die Beine, öffnete die Haustür, und weg war sie.
Alban holte die Zeitung herein und überflog die Überschriften. Nichts Neues über den Mord.
Er ging hinauf, studierte einen Autoatlas und ließ sich von der Auskunft die Telefonnummer von Jochs Bruder Sebastian in Koblenz geben. Er überlegte, ob er sich dort anmelden sollte, ließ es dann aber.
Die Haustür wurde aufgeschlossen. Simone kam zurück.
»Ich hab heute nur eine kleine Runde gemacht«, sagte sie. In der rechten Hand hielt sie die Brötchentüte. »Du hast nicht vielleicht schon Kaffee gemacht?«
»Tut mir leid. Wird sofort erledigt. Du kannst ja schon duschen.«
Sie legte die Tüte auf den Tisch und verschwand in Richtung Bad. Alban setzte Kaffee auf und deckte den Tisch. Als sie zurückkam, war alles fertig.
Simone starrte nachdenklich auf ihre Tasse. »Mir geht der Abend gestern auch nicht aus dem Kopf«, sagte sie. »Ich versteh ja nicht viel von Musik. Aber diese Arie wirkt eigenartig auf mich.«
»Das hat nichts damit zu tun, wie viel man davon versteht.«
»Sie klingt irgendwie … hypnotisch. Wie Musik aus einer anderen Welt. Aber Herrn Kessler schien das Stück ja völlig kaltzulassen.«
Nachdem Frederike Bertram das Stück für unsingbar erklärt hatte, war der Hauptkommissar in seinem Spott nicht mehr zu bremsen gewesen. »Da hast du dein Geheimnis, Nikolaus«, hatte er gesagt. »Ein Stück, das man nicht aufführen kann! Und diese Arie soll es wert sein, dass du große Nachforschungen anstellst?«
Alban hatte angesetzt, Kessler zu erklären, dass es viele Werke in der Musikgeschichte gab, die zu Zeiten ihrer Entstehung neue Maßstäbe gesetzt hatten. Die man zuerst für nicht aufführbar hielt, die aber heute jeder Durchschnittsmusiker, jedes Durchschnittsorchester spielen konnte. Strawinskys »Sacre du printemps« zum Beispiel – ein rhythmisch extrem vertracktes Skandalballett aus dem Jahr 1913. Oder Richard Wagners Oper »Tristan und Isolde«. 1861 sollte das Werk in Wien uraufgeführt werden. Es war nach damaligen Maßstäben so schwer, dass man nach 77 Proben das Handtuch warf. Heute gehörten Strawinskys »Sacre« genauso wie der »Tristan« zum gängigen Repertoire. Aber er hatte darauf verzichtet, eine solche Diskussion in Gang zu setzen.
Der Abend war gewissermaßen versickert. Kessler war schnell wieder aufgebrochen, sichtlich erzürnt, dass er für das Experiment einen freien Abend geopfert hatte.
Frederike Bertram konnte man anmerken, dass sie sich für den misslungenen Abend die Schuld gab. Sie hatte versucht, das Quartett noch zu einer Beethoven-Probe zu ermuntern, aber Kesslers Abgang machte diesen Vorschlag zunichte.
Was war es nur, das dieses Musikstück für ihn so faszinierend machte? Was berührte Alban an dieser Musik?
Frederike Bertram hatte die Arie kein einziges Mal zu Ende gesungen. Er hatte sie also nie ganz gehört – nur in der lächerlichen Darbietung von Jungs Computer. Doch das wenige, das er von dem Stück im Ohr hatte, reichte, um eine geheime Saite in ihm zum Schwingen zu bringen.
Er verdiente seit Jahren Geld damit, niederzuschreiben, warum Musik gut oder weniger gut war. Doch in diesem Fall musste er passen. Er konnte es nicht erklären. Immerhin stand er nicht allein da. Den beiden Schwestern, Stollmann und Simone hatte das, was sie zu hören bekommen hatten, ebenfalls gefallen.
Die Noten auf dem Papier waren für ihn wie eine unbekannte Inschrift in fremdartigen Buchstaben, deren Zauber man schon bei der Betrachtung erliegt – obwohl man ihre Bedeutung gar nicht kennt.
Alban erinnerte sich an eine Reise nach Ägypten, die er 1998 mit Lea unternommen hatte. Sie waren damals gerade ein, zwei Monate zusammen gewesen. Alban hatte die Hieroglyphen bewundert und den Reiseleiter gebeten, einige davon zu übersetzen. Er war erstaunt gewesen, was für profane Dinge da zutage kamen: Rechnungen, buchhalterische Notizen,
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