Das Gift der Engel
studierte.«
Joch stellte das Foto wieder an seinen Platz und nahm die anderen in Augenschein. »Das hier ist unsere Mutter.« Er deutete auf das Farbfoto einer sehr alten Dame mit dichtem weißem Haar. »Sie ist erst vor ein paar Jahren gestorben.«
Ein drittes Foto zeigte zwei Jungen. Alban versuchte sich daran zu erinnern, wie Wolfgang Joch ausgesehen hatte, und er vermutete, dass es die beiden Brüder sein mussten. Joch lieferte zu diesem Bild jedoch keine Erklärung und wandte sich dem Inneren des Sekretärs zu. Er zog die Schubladen auf, und weiteres Papier quoll hervor. Alban erkannte Taschenkalender und schmale Hefter mit Kontoauszügen. Interessant, dass sich die Polizei dafür nicht interessiert hat, dachte er. Oder hatten sich die Beamten hier vor Ort alles angesehen und die Papiere dann wieder zurückgelegt?
»Ich werde das jetzt in Ruhe durchgehen«, sagte Joch. »Worauf soll ich achten?«
»Adressen von Bibliotheken und Archiven. Entsprechende Korrespondenz. Termine in den Kalendern. Vielleicht Namen von Professoren oder anderen Leuten. Notizen über Reisen. Bekannte.«
»Was ist, wenn ich zum Beispiel ein Adressbuch finde? Wollen Sie dann jeden anrufen und mit ihm über die Noten sprechen?«
»Warum nicht?«
»Also gut«, sagte Joch, zog die Schubladen heraus und stellte sie auf dem gläsernen Tisch vor der roten Couch ab. Dann streifte er seinen Mantel ab, setzte sich und nahm sich die Papiere vor.
»Ich werde Ihnen da wohl kaum helfen können«, sagte Alban, der stehen geblieben war.
»Nein. Und ich möchte Sie auch bitten, mich damit allein zu lassen. Diese Dinge gehen niemanden außer mir etwas an. Machen Sie doch in der Zwischenzeit einen kleinen Spaziergang.«
Alban fragte sich, ob Joch nicht vielleicht ein bisschen übertrieb. »Also gut«, sagte er schließlich, nickte Joch kurz zu und verließ die Wohnung.
Er gab ihm zwanzig Minuten, in denen er bis hinauf zum Schloss und wieder zu Jochs Haus spazierte. Wieder zurück klingelte er, und noch bevor oben auf den Türöffner gedrückt wurde, öffnete sich die Tür, und die Frau, der Alban bei seinem ersten Besuch begegnet war, trat ins Freie. Sie erkannte Alban sofort.
»Und?«, fragte sie. »Sind Sie die CDs losgeworden?«
Alban nickte. »Ich treffe mich hier mit Herrn Jochs Bruder. Er ist oben in der Wohnung und sieht ein paar Papiere durch.«
»Ach, deshalb habe ich eben gehört, wie die Tür aufging.«
»Sie wohnen auf derselben Etage?«
Sie nickte. »Es ist schon eine furchtbare Sache mit dem Mord an Herrn Joch.«
Sie ging an Alban vorbei, blieb aber vor dem schmalen eisernen Tor stehen. Offenbar hatte sie es nicht eilig.
»Ich bin eben schon mal mit Herrn Jochs Bruder oben gewesen«, sagte Alban. »Es ist seltsam, dass die Wohnung so leer ist. Sie wirkt, als hätte Herr Joch dort gar nicht gewohnt.«
»Sind keine Möbel drin?«
»Schon. Aber alles ist wie unberührt. Alles ist sauber. Es gibt kaum persönliche Dinge.«
»Vielleicht war Herr Joch ein sehr ordentlicher Mensch. Und er war ja auch oft nicht zu Hause.«
»Sie meinen, es kann sein, dass er noch eine andere Wohnung besaß?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht eine Ferienwohnung?«
Hinter dem Zaun gab es eine Bewegung. Ein Wagen fuhr vor.
»Bis zum nächsten Mal.« Sie lächelte.
Alban wartete nicht, bis sie weggefahren war. Er wandte sich um, drückte die Tür auf und ging hinauf.
Die Wohnungstür war angelehnt. Joch saß immer noch im Wohnzimmer, umgeben von Papieren. »Sie haben aber lange gebraucht, bis Sie oben waren«, sagte er.
»Ich habe mich unten kurz mit einer Nachbarin unterhalten.«
Joch lächelte verkniffen. »Und – hat sie Ihnen sagen können, woher die Partitur stammt?«
Alban schüttelte den Kopf. Es war auf den ersten Blick zu sehen, dass Joch nicht sehr weit gekommen war.
»Bis jetzt habe ich nur ein bisschen amtliche Korrespondenz und Kontoauszüge gefunden.«
Alban zog den Mantel aus und legte ihn über einen Sessel. »Ich hoffe, die Kontoauszüge sind zu Ihrer Zufriedenheit«.
Joch antwortete nicht.
»Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich mir die Bücher und CDs Ihres Bruders ansehe?«
»Kein Problem«, ließ Joch vernehmen, ohne aufzusehen, und legte einen Kontoauszug auf einen säuberlichen Stapel, der sich auf dem Glastisch türmte.
Alban ging zur Stirnseite des Raumes, stellte sich vor das Regal und hielt den Kopf schief. Es dauerte nicht lange, bis er begriff, dass hier ebenfalls etwas nicht stimmte. Für
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