Das Gift der Engel
unsichtbare Last abschütteln.
»Ich habe noch mal Frau Richter angerufen. Sie kennt keine Dagmar Dennekamp. Und Herr Bernardi ist nicht zu erreichen. Mir fehlt das Bindeglied zwischen den beiden Fällen. Und ich habe auch das Gefühl, dass es gar nicht mehr nur um die Partitur geht.«
»Jetzt verlier mal nicht den Überblick, Nikolaus.« Simones Blick verfolgte Alban, der nun rastlos durch das Zimmer marschierte. »Mit der Partitur bist du ja ein großes Stück weitergekommen. Was Peter am Ende gesagt hat, klang doch ganz plausibel. Die Gesangsstimme stammt aus irgendeinem alten Werk, und der Rest ist dazugeschrieben worden. Es ist so eine Art …«
Alban blieb stehen. »Ja?«
»Eine Art Coverversion«, sagte sie.
»Ja, so nennt man das wohl. In der Musikwissenschaft würde man eher von einem Arrangement oder einer Rekonstruktion sprechen.«
Sie setzte sich in den Sessel. »Jetzt tu mir den Gefallen und erklär mir doch bitte mal diese Geschichte mit den Kastraten. Das habe ich nämlich überhaupt nicht verstanden. Das heißt – ein bisschen was habe ich schon mal davon gehört.«
Alban beendete seine Lockerungsübungen und nahm wieder seinen Platz hinter dem Schreibtisch ein.
Simone lächelte ihn an. »Mensch, hinter deinem Pult siehst du wirklich aus wie ein Professor oder ein Richter oder so was.«
»Ich habe nichts dagegen, eine Respektsperson zu sein. Also, was hast du über Kastraten gehört?«
Sie zog die Stirn in Falten. »Das sind Männer, die man kastriert hat, damit sich ihre hohen Knabenstimmen erhalten, richtig? Einer von ihnen hieß Farinelli. Und über den gab es vor ein paar Jahren einen Kinofilm.«
»Hast du den Film gesehen?«
»Nein, aber eine Freundin von mir. Hat Peter solche Kastraten wie Farinelli gemeint?«
Alban nickte. »Es ist viel über diese Männer geschrieben worden, und dass dieses Thema so populär geworden ist, hat sicher etwas damit zu tun, dass es dabei auch um das eine geht … Alle Welt fragt sich, ob Kastraten sexuelle Potenz besaßen, ob sie Liebhaberinnen hatten.«
»Was hat man denn genau mit ihnen gemacht?«, fragte Simone.
Alban beugte sich vor und legte die Hände auf die Tischplatte. »Ihnen wurden vor dem Stimmbruch, also vor der Pubertät, die Hoden entfernt. Im Barockzeitalter, als die Oper und mit ihr die virtuose Gesangstechnik entstand, hat dieses Phänomen eine unglaubliche Blüte erlebt. Vor allem in Italien wurden Tausende von Knaben kastriert, weil man glaubte, aus ihnen würden große Sänger. Mancher hatte Glück und wurde berühmt, doch so ging es nur wenigen. Die anderen hatten Pech. Viele starben auch an der Operation.«
»Schrecklich.« Simone machte ein gequältes Gesicht.
»Ja, das ist ein dunkles Kapitel. Manche Kastraten waren damals so populär wie die heutigen Popstars. Sie brachten es zu immensem Reichtum. Viele von ihnen kamen aus ärmsten Verhältnissen. Die Eltern haben ihre Knaben oft regelrecht verkauft, wenn sich herausstellte, dass sie eine schöne Stimme hatten. Die Jungen kamen nach der bestialischen Operation in die Obhut von Ausbildern, die die Stimmen trainierten. Und nur wenn sie diese harte Ausbildung meisterten, hatten sie überhaupt eine Chance.«
»Peter hat doch einen Namen genannt. Por … wie hieß der noch mal?«
»Nicola Porpora. Er war der Lehrer des Kastraten Farinelli, der dann übrigens auch in Händels Opern auftrat. Kastraten waren in der Lage, extrem schwere Gesangspartien zu meistern. Das lag daran dass, sie einerseits eine hohe Stimme hatten, aber dazu den männlichen, sehr voluminösen Brustkorb. Man glaubt, dass dem kein Sänger von heute gewachsen wäre, auch Sängerinnen nicht. Viele Arien, die sie gesungen haben, sind natürlich als Noten erhalten, aber wie man weiß, haben sie ihre Partien selbst erschwert, indem sie sie mit Improvisationen ausgestattet haben – also mit schwierigen Läufen und Trillern und so weiter. Das war alles extrem virtuos. Fast so etwas wie ein Hochleistungssport.«
Simone nickte. »Und der Gesangsteil dieser Arie könnte so eine Improvisation sein?«
»Richtig.«
»Warum hat eigentlich jemand überhaupt diese Bearbeitung gemacht? Wenn jemand eine Begleitung dazu schreibt, dann will er das Stück doch auch aufführen, oder?«
Alban lächelte. »Simone, an dir ist eine Musikwissenschaftlerin verloren gegangen. Genau so sieht es aus.«
»Es muss also jemanden geben, der das singen kann. Und da es keine Kastraten mehr gibt … Oder doch?«
Alban schüttelte
Weitere Kostenlose Bücher