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Das Gift der Engel

Das Gift der Engel

Titel: Das Gift der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Buslau
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den Kopf. »Kastraten gibt es heute nicht mehr. Solche Operationen sind natürlich nicht erlaubt. Es gibt sehr gut ausgebildete Countertenöre, die jedoch auch nicht an das Vermögen der Kastraten herankommen. Klanglich vielleicht, aber nicht, was die Virtuosität betrifft.«
    »Was sind jetzt wieder Countertenöre?«
    Alban erklärte es ihr. Dann holte er ein paar CDs aus dem Regal und spielte Simone Beispiele vor. Sie machte ein ratloses Gesicht.
    »Eigenartige Musik«, sagte sie. »Nicht gerade mein Geschmack.«
    »Herr Joch hatte ein Faible für solche Sachen. Er fand sie, wie ihr heute sagen würdet, geil.«
    »Woher weißt du das?«
    »Herr Zimmermann hat mit seinem Anwalt darüber gesprochen.«
    »Und so haben diese Kastraten geklungen?«
    »Man weiß es nicht. Es existiert allerdings, eine einzige Aufnahme … Warte mal.«
    Alban ging zum Bücherregal, griff zu einem Lexikon und nahm einen Band heraus.
    »Wie war denn noch mal der Name …«, murmelte er.
    »Aber es hat doch im 18. Jahrhundert noch keine Schallplatten gegeben«, sagte Simone verwirrt.
    Alban blätterte. »Nein. Aber der letzte Kastrat lebte bis nach dem Ersten Weltkrieg … Hier haben wir’s. Es war ein Italiener namens Alessandro Moreschi. Er lebte von 1858 bis 1922 und sang in der Sixtinischen Kapelle in Rom. 1902 und 1904 hat er Schallplattenaufnahmen gemacht.« Er ging auf die andere Seite des Regals, wo die CDs standen. »Ich habe eine dieser Aufnahmen sogar. Sie ist vor ein paar Jahren auf CD herausgekommen.«
    »Nur damit ich das richtig verstehe: Das ist ein echter Kastrat – einer, der nicht nur künstlich so hoch singt wie eine Frau, sondern der seine hohe Stimme erhalten hat? Einer ohne Hoden?«
    »Genauso ist es«, sagte Alban. »Sie haben die CD herausgebracht, als damals der Farinelli-Film ins Kino kam.«
    Alban schritt mehrmals die Reihen der CDs ab, und endlich wurde er fündig.
    »Ich habe leider immer noch kein vernünftiges System entdeckt, wie man die CDs sortieren kann. Vor allem, wenn auf einer einzigen Aufnahme verschiedene Komponisten und verschiedene Musiker sind …«
    Simone hatte in der Zwischenzeit den Lexikonartikel über die Geschichte der Kastraten überflogen.
    »Das sind ja komische Zeichnungen«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Die sehen wie Monster aus.«
    »Es sind Karikaturen«, sagte Alban, der ihr über die Schulter sah. »Man hat sich über diese Männer auch lustig gemacht. Durch ihre Operation hatten sie wahrscheinlich einen völlig gestörten Hormonhaushalt. Angeblich besaßen sie eine sehr auffällige Figur. In jungen Jahren waren sie sehr groß und sehr schlaksig, und später wurden sie dann dick. Es müssen Mammutmenschen gewesen sein.«
    Er nahm die CD zur Hand. Das Cover zeigte einen blauen Himmel mit weißen Wölkchen, zwischen denen kleine Engelchen schwebten, und darüber standen in Goldbuchstaben die Worte »Le Temps des Castrats«.
    Er legte die Silberscheibe in den Player und drückte ein paar Knöpfe. Kurz darauf füllte sich der Raum mit einem Knacken und Rauschen, das so stark war, dass die Töne eines einsetzenden Klaviers kaum hindurchdringen konnten.
    »Die Aufnahme ist über hundert Jahre alt«, brachte Alban in Erinnerung.
    Die Gesangsstimme begann. Allerdings erinnerte sie weniger an Operngesang als an winselndes Geheule hinter einem dichten Vorhang aus Nebengeräuschen.
    Simone schüttelte den Kopf. »Das soll jetzt ein Kastrat sein?«
    Alban drückte die Stopp-Taste. »Ich weiß. Das klingt nicht gerade nach einem dieser Gesangsgenies, von denen ich dir eben erzählt habe. Aber du musst berücksichtigen, dass der Mann zum Zeitpunkt dieser Aufnahme seine Karriere schon hinter sich hatte. Außerdem war die Aufnahmetechnik im Jahre 1902 noch extrem schlecht. Das Ganze hat wirklich nur dokumentarischen Wert.«
    »Spiel das noch mal von vorne«, sagte Simone.
    Alban bediente den Player. Wieder rauschte und knackte es, dann kam das Klavier, und der Kastrat setzte ein. Diesmal konzentrierte sich Simone, und sie hörten die Passage bis zum Schluss.
    »Eigentlich wirkt die Stimme wie die eines Kindes.«
    »Ja, wie die eines Knaben. Man glaubt nicht, dass ein über vierzigjähriger Mann vor dem Aufnahmetrichter gestanden hat.«
    Er nahm den Lexikonband, der auf seinem Schreibtisch lag. »Moreschi lebte zeit seines Lebens im Vatikan. Deshalb hat man ihn auch den ›Engel von Rom‹ genannt.«
    Simone musste lächeln. »Na, wie ein Engel hat er nicht gerade gesungen. Darunter

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