Das Gift der Engel
stelle ich mir doch noch was anderes vor.«
»Die Barockzeit war ja längst vorbei. Und auch der Stil der Musik hatte sich verändert.«
Simone streckte sich und gähnte. »Eines wundert mich allerdings.«
»Was denn?«
»Nehmen wir mal an, die Solostimme der Arie stammt tatsächlich aus irgendwelchen alten Kastratennoten, und der Rest wurde dazugeschrieben. Warum ist denn dieser Dottore Bernardi nicht darauf gekommen? Warum hat er das nicht erkannt? Gerade bei einem italienischen Musikwissenschaftler sollte man so was doch erwarten. Von Herrn Professor Gräber ganz zu schweigen.«
»Sie haben sich die Noten vielleicht gar nicht richtig angesehen. Und Bernardi war sicher verärgert darüber, dass ich und nicht er die Partitur als Erster zu Gesicht bekommen hat, denke ich. So war es ganz gut, dass wir die Analyse von Herrn Jung bekommen haben. Ein Computer ist eben nicht eitel. Herr Jung hat das wirklich kompetent gemacht. Schön, dass es immer noch junge Leute gibt, die sich mit Klassik beschäftigen und sich nicht von dieser Krawallmusik zudröhnen lassen.«
»Woher weißt du, dass er es nicht auch tut? Kann man nicht klassische Musik und Techno hören?«
Alban steckte die CD mit der Kastratenaufnahme zurück an ihren Platz. »Nein, das glaube ich nicht. Entweder oder.«
»Dann muss ich dich aber enttäuschen!«
Alban drehte sich um und sah zu Simone, die im Sessel saß und hämisch grinste.
»Was soll das heißen?«, fragte er.
»Ich bin morgen Abend mit Peter verabredet.«
»Ach?«
»Ja – und weder in der Oper noch in der Beethovenhalle noch in der Kölner Philharmonie.«
»Sondern?«
»In Köln im E-Werk. Krawallmusik hören.«
12
Alban hatte sich schon immer darüber gewundert, dass die Bonner das Gebiet zwischen Kölnstraße und Bornheimer Straße, zwischen Berliner Platz und Kaiser-Karl-Ring Altstadt nannten. Natürlich waren die Häuser dort alt: An den engen Alleen reihten sich mehr oder weniger renovierte klassizistische Fassaden, und wenn man durch die schnurgeraden Straßen fuhr, prasselten die Reifen über Kopfsteinpflaster. Trotzdem lag dort nicht das älteste Gebiet Bonns. Das befand sich eindeutig hinter dem Schloss. Doch dafür hatten die Bonner einen anderen Namen: Sie nannten es »Innenstadt« oder »Fußgängerzone«.
Alban ließ den Volvo im Schritttempo durch die Dorotheenstraße rollen, die die sogenannte Altstadt genau in der Mitte teilte. Links und rechts parkte ein Wagen hinter dem anderen. Immer wieder musste er an den kleinen Kreuzungen Nachbildungen römischer Relikte ausweichen, die die Stadtväter hier hatten aufstellen lassen.
Er hatte die Adresse von Dennekamps Laden passiert, doch er war gezwungen weiterzufahren, bis er endlich einen Parkplatz fand. Auf dem Rückweg kam er erneut an einem der antiken Denkmäler vorbei, deren Sinn vor allem darin bestand, den Verkehr zu beruhigen. Es war eine etwa zwei Meter hohe helle Säule auf dunklem Sockel. In das Rund war eine lateinische Inschrift eingemeißelt. Eine Tafel informierte darüber, dass es sich hierbei um den Abguss eines römischen Meilensteins handelte, der zwischen Köln und Trier gefunden worden war.
Vor einer breiten Toreinfahrt blieb Alban stehen. Daneben war an einer Mauer ein Schild angebracht: »Martin Dennekamp – Antiquariat und Verlag«. Ein Pfeil wies in den Hof, an dessen Rückseite sich ein dunkles Backsteingebäude mit schrägem Blechdach drängte. Daneben parkte ein alter VW-Bus, dessen Farbe sich nicht entscheiden konnte, was sie sein wollte: Hellblau, Beige oder verdrecktes Weiß.
Alban gelangte an eine Glastür mit weißen Sprossen, hinter der ein handgeschriebenes Pappschild ein weiteres Mal darauf hinwies, dass man es hier mit Dennekamps Geschäft zu tun hatte. Er wechselte die Mappe mit der Partitur in die andere Hand und sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach zehn am Samstagmorgen. Das Geschäft müsste geöffnet sein. Er drückte die Klinke hinunter. Die Tür war verschlossen.
Er ging näher an das Glas heran und versuchte ins Innere zu sehen, doch es war zu dunkel. Bestenfalls ein paar Regale waren zu erahnen. Er klopfte ein paarmal gegen die Scheibe. Nichts geschah.
Vielleicht gibt es einen Hintereingang?, dachte Alban.
Er umrundete den Backsteinquader und kam an der Rückseite, wo er sich zwischen die Mauer und den Zaun zum nächsten Grundstück quetschen musste, an einem weiteren Fenster vorbei. Im Dämmerlicht waren eine Spüle und ein Kühlschrank zu erkennen, auf dem
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