Das Gift der Engel
keine Ruhe findet.«
»Ein Trugbild, das die Männer zum Wahnsinn treibt.«
»Genau. Und ein Trugbild, das zum Leben erwacht. Der Traum wird real, die Realität wird Traum.«
»Glaubst du, Dagmar Dennekamp hat sich so in diese Geschichten hineingesteigert, dass sie sich selbst wie dieser Florio vorkam? Dass sie nachts auf der Suche nach ihren Träumen war?«
»Warum nicht?«
»Dann stellt sich die Frage, was sie auf ihren Ausflügen entdeckt hat.«
»Zumindest wird sie jemandem begegnet sein.«
»Und wem?«
»Vielleicht ihrem Mörder.«
Wie bei seinem gestrigen Besuch fuhr Alban an der Erpeler Stadtmauer vorbei, die die Schnellstraße säumte, und bog am Ende des Ortes scharf nach links ab.
Sie passierten ein Holzschild, das den Wanderweg zur Erpeler Ley anzeigte, dem markanten Bergrücken, der sich hinter dem Örtchen erhob. Links kam ein weißes Gebäude mit blau umrandeten Fenstern in Sicht, und auf der rechten Seite glänzten Schienen – der Bahnhof. Hier hatte Alban gestern ebenfalls angehalten. Sie stiegen aus und sahen sich um.
»Das hier ist die Bahnhofstraße. Ich war gestern schon ganz richtig. Ich wusste es nur nicht.«
»Was ist das denn dahinten?«, fragte Simone und deutete auf die schwarzen Türme, die sich drohend zu Füßen der Ley erhoben.
»Das ist der Rest der alten Brücke von Remagen.«
»Hier war eine Brücke?«
»Allerdings.« Alban musste sich wieder einmal über den Mangel an Bildung bei der jüngeren Generation wundern. »Sie hat im Zweiten Weltkrieg eine dramatische Rolle gespielt und wurde zerstört. Es gibt sogar einen Hollywood-Kriegsfilm darüber. Auf der anderen Seite stehen auch solche Türme. Darin ist heute ein Museum untergebracht, soweit ich weiß. Und dann gab es noch ein Kriegsgefangenenlager auf der anderen Rheinseite.«
»So romantisch wie in Eichendorffs Geschichte ist es hier also auch wieder nicht«, sagte Simone. »Wo hat Dagmar Dennekamp denn nun gewohnt?« Offensichtlich hatte sie keine Lust auf eine Geschichtsvorlesung. Außerdem war ihr deutlich anzusehen, dass sie es hier ziemlich ungemütlich fand. Daran war nicht nur das bedrückende Bild schuld, das sich ihnen bot, sondern auch der scharfe Wind, der um die Ecken fegte. Simone hielt mit der rechten Hand schützend den Kragen ihrer Jacke geschlossen. Mit der linken umfasste sie die Mappe mit der Partitur und Dagmars letztem Tagebuch.
»Hier lang«, sagte Alban.
Sie folgten der Bahnhofstraße, die schnurgerade ins Zentrum des Örtchens führte. Alles wirkte verlassen. Zwanzig Minuten war man hier von Bonn entfernt, und die Welt schien stillzustehen.
Alban behielt die Hausnummern im Auge, und schließlich hatten sie die richtige Adresse gefunden. Ein weißes Haus mit einer Hofeinfahrt, die mit einem niedrigen Tor geschützt war. Auf der anderen Seite des Hofes lagen zwei Garagen, über denen eine Wohnung mit einem kleinen Balkon zu erkennen war.
»Hier ist es«, sagte Alban. »Nun müssen wir die Leute wieder aus der Sonntagsruhe klingeln.«
»Ich denke, wir sollten sogar noch weitergehen, sonst erzählen sie uns doch nichts.«
»Wie meinst du das?«
»Wir könnten uns als Verwandte von Dagmar Dennekamp ausgeben. Verwandte, die mal sehen wollen, wie sie so gelebt hat. Entfernte Verwandte, die sie kaum gekannt haben. Denk dran, was ich dir neulich über die Legende erzählt habe, die sich ein Detektiv zurechtlegen muss.«
Ehe Alban etwas sagen konnte, drückte Simone auf den Klingelknopf, neben dem ein verwaschenes Schild den Namen der Bewohner anzeigte: Preußer. Irgendwo im Haus schrillte es ziemlich laut. Kurz darauf öffnete eine Frau in einem cremeweißen Häkelpullover und Jeans die Tür, kam aber nicht ans Tor.
»Ja bitte?«, sagte sie und blickte Alban und Simone misstrauisch an.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung. Sind Sie Frau Preußer?«, fragte Alban.
»Preußler.« Die Frau nickte.
»Frau Preußler, mein Name ist Alban. Ich bin, das heißt, ich war … ein Onkel von Frau Dennekamp. Stimmt es, dass sie hier gewohnt hat?«
Die Frau nickte wieder, sagte aber nichts.
»Meine … Tochter und ich sind zufällig in der Gegend, und wir wollten einfach mal sehen, wie Dagmar so gelebt hat. Wir haben sie nach ihrer Zeit in Bonn leider aus den Augen verloren, und dann haben wir erfahren, dass sie umgekommen ist.«
»Ja«, sagte die Frau und deutete auf den Anbau über der Garage. »Dahinten hat sie gewohnt.«
»Sie hat sich hier wahrscheinlich sehr wohl gefühlt«, sagte
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