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Das Gift der Engel

Das Gift der Engel

Titel: Das Gift der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Buslau
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künstlerischer Schreibprozess ja so aus, dass man diese Art des automatischen, unzensierten Schreibens zulässt, dann aber die Ergebnisse einer strengen Prüfung unterzieht. Unterbewusstsein und Bewusstsein – beide müssen zu ihrem Recht kommen. Bei Dagmar war das anders. Und sie hat noch nicht mal nur eigene Sachen geschrieben. Sie hat auch Fremdes kopiert. Als wollte sie um jeden Preis Buchstaben aufs Papier setzen. Sie war dem Schreiben verfallen.«
    »Sie hat abgeschrieben«, konstatierte Alban, »Eichendorff.«
    »Sie hat Eichendorff praktisch auswendig gekannt. ›Das Marmorbild‹, ›Ahnung und Gegenwart‹ … Ich glaube, sie hat gar nicht mehr gemerkt, dass sie im Grunde nur mehr oder weniger leicht veränderte Texte von Eichendorff niederschrieb. Als sie noch hier in Bonn bei ihrem Mann lebte, war das noch nicht so ausgeprägt. In Erpel war sie außerhalb jeglicher Kontrolle. Sie lebte von ihrem bisschen Geld und tat tagsüber nichts anderes, als Worte zu Papier zu bringen. Und nachts unternahm sie ihre Ausflüge.«
    »Was für Ausflüge?«
    »Sie hat versucht, die Szenerien der Eichendorff-Novellen nachzuerleben. Im Vollmond durchs Rheintal. Durch die Wälder. Das war ihre Welt. Und das hat sie am Ende auch das Leben gekostet.«
    »Glauben Sie, ihr Mann hat ihr aufgelauert und sie getötet? Oder wie meinten Sie das, als Sie sagten, er sei schuld an ihrem Tod?«
    Delia zuckte mit den Schultern. »Martin hat sich am Anfang groß getan und sich als Verleger aufgespielt. Er wollte Dagmars und unsere Lyrik herausbringen.«
    »Was ist daran schlecht?«
    »Er hat sich dafür bezahlen lassen. Fast zweitausend Euro hat er pro Lyrikband kassiert, und er hat uns das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Unsere Werke sollten in allen großen Buchhandlungen in Nordrhein-Westfalen stehen. Er wollte Lesungen in den Literaturhäusern organisieren. Daraus ist rein gar nichts geworden. Die Bücher gammeln heute noch in seinem runtergekommenen Laden herum. Er hat sie noch nicht mal rausgerückt, als klar war, dass er nichts für uns tun würde. Er hat uns angeboten, dass wir sie ihm abkaufen können. Was für eine Sauerei! Er wollte noch mal Geld dafür haben, obwohl wir die Herstellung ja im Grunde selbst bezahlt hatten.«
    »Aber deswegen muss er doch seine Frau nicht ermordet haben.«
    »Haben Sie nicht gesehen, wie es bei ihm aussieht? Diese Müllhalde? Und in dieser Umgebung soll so ein sensibler Mensch wie Dagmar leben? Er hat sie aus dieser Ehe getrieben und sie in ihre Fantasien, in ihre Sucht gezwungen. Seinetwegen ist sie weggezogen und hat sich in ihre Schreiberei reingesteigert. Nur seinetwegen. Er ist ihr Mörder. So oder so.«
    »Können Sie uns jemanden nennen, mit dem wir über Dagmar sprechen können? Was ist mit den Kursteilnehmerinnen?«
    Delia schüttelte den Kopf. »Die Einzige, die Dagmar kannte, war ich. Die Werkstatt hat starke Fluktuation. Nicht viele halten die Kritik in der Gruppe aus. Fahren Sie nach Erpel, sprechen Sie mit den Menschen dort. Vielleicht kommen Sie dann weiter.« Sie stand auf. »Und jetzt würde ich gern weitermachen, wenn Sie erlauben.«
    Alban drückte auf den elektronischen Schlüssel. Die Blinker gingen kurz an, und die Knöpfe in den Türen klackten nach oben.
    »›Das Marmorbild‹? ›Ahnung und Gegenwart‹? Was hat das denn zu bedeuten?«, fragte Simone.
    »Es sind Romane von Eichendorff. Das heißt, genau genommen ist ›Das Marmorbild‹ eine Novelle.«
    Sie stiegen ein, und Alban startete den Wagen.
    »Und worum geht es in diesen Geschichten?«
    Alban dachte nach. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir, dass gerade ›Das Marmorbild‹ zu Dagmar Dennekamp und ihren romantischen Fantasien passt.«
    Simone rutschte etwas tiefer in den Sitz. »Erzähl«, sagte sie.

16
    Alban kramte in seinem Gedächtnis. Es war lange her, dass er die Eichendorff-Novelle gelesen hatte. Erinnerungsfetzen tauchten vor seinem inneren Auge auf. Eine Marmorstatue im Park eines nächtlichen Schlosses. Der Mond schien, und das Marmorbild erschien ganz blass und bleich.
    »Man könnte die Novelle als Gruselgeschichte bezeichnen«, sagte er.
    Sie befanden sich auf der Kennedybrücke. Auf der linken Seite erhob sich der Post-Tower, rechts ragte dunkel der Drachenfels auf. Alban war noch nie aufgefallen, wie symbolträchtig diese Brücke war. Sie schien zwei Welten exakt zu trennen: die Welt der modernen Technik und die der letzten Überbleibsel der alten

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