Das Gift der Engel
Alban.
Die Frau bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle, und es schien ihr nichts auszumachen, die Unterhaltung quer über den Hof zu führen.
»Ja. So eine nette Frau.«
»Ich habe gehört, sie hat oft Spaziergänge unternommen. Hatte sie da besondere Ziele?«
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Den Rhein entlang. Ist ja schön hier.«
»Ein wunderbares Fleckchen Erde«, schwärmte Alban und spürte selbst, wie verkrampft er klang.
Frau Preußler nickte. »Ich würde Ihnen das dahinten gern zeigen, aber wir haben wieder vermietet.«
Alban winkte ab. »Selbstverständlich, Frau Preußler. Vielen Dank. Dann werden wir mal durch Ihr nettes kleines Örtchen noch einen Spaziergang machen. Schönen Sonntag noch.«
»Na, das hast du ja prima hingekriegt, du Meisterdetektiv«, sagte Simone. »Das hätte man wirklich besser machen können.«
»Ach ja? Und wie?« Alban war verärgert, mehr über sich selbst als über Simone.
»Fragen stellen. Ob sie ihre Miete pünktlich bezahlt hat. Ob sie noch was schuldig war. Ob da noch Nebenkosten offen sind zum Beispiel. Über so was freuen sich die Leute. Schon hätte sie uns hereingebeten.«
»Das hättest du auch vorher sagen können.«
»Es ist mir eben erst eingefallen.«
»Und was fällt dir jetzt ein? Ich meine, was machen wir als Nächstes?«
Sie sah sich um. »Gehen wir erst mal weiter. Die Leute, die hier wohnen, haben uns sicher schon fest im Blick. Wir müssen die Rolle der harmlosen Angehörigen weiterspielen.«
Langsam spazierten sie auf der Straße in Richtung Ortskern. Simone schlug Dagmar Dennekamps Tagebuch auf.
»Gut, dass wir das mitgenommen haben.« Alban sah, dass sie die Seite mit dem Gedicht über das »Gift der Engel« aufschlug. »Wir sollten diesen letzten Text gleich noch mal in Ruhe durchgehen. Jetzt, da wir uns dort befinden, wo sie ihn geschrieben hat.« Sie erreichten den kleinen Platz mit den restaurierten Fachwerkhäusern.
»Das ist aber hübsch hier«, sagte Simone und bewunderte den Brunnen und das Mosaik im Boden. »So was erwartet man gar nicht, wenn man auf der Bundesstraße vorbeifegt.«
Alban musste ihr zustimmen. Im Sommer war es aber sicher noch schöner.
»Schau mal hier«, sagte Simone und näherte sich einem der Fachwerkhäuser. In der Mauer gab es eine kleine Holzklappe mit der geschnitzten Aufschrift »Erpeler Peepshow.« Sie zog daran, und ein lautes Zwitschern ertönte.
»Netter Gag.« Sie drückte die Klappe wieder zu. »Die Leute hier haben Humor. Auch wenn man von ihnen selbst nichts zu sehen kriegt.«
»Die lassen sich ja wirklich was einfallen, um die Touristen zu unterhalten«, sagte Alban.
»Also«, sagte Simone, wieder ernst. »Schauen wir uns den Text mal an.«
Langsam, deutlich, aber nicht zu laut las sie das Gedicht vor.
»Wenn mich nicht alles täuscht, steht da oben auf dem Felsen, den sie Erpeler Ley nennen, ein Kreuz. Das passt. Und am Anfang ist von verwinkelten Gassen die Rede, die es hier ebenfalls gibt. Dann geht es darum, dass sie auf die andere Seite des Stromes strebte. Sie hat also den Fluss überquert.«
»Ja, von einer Nixe getragen«, zitierte Alban. »Sehr realistisch. Glaubst du, dass wir eine Meerjungfrau finden, die uns auf die andere Seite bringt? Simone, das ist ein Symbol. Du kannst diesen Text nicht wortwörtlich nehmen. Ich denke, ich habe dir das eben bei der Eichendorff-Geschichte erklärt.«
»Aber wenn es doch passt! Kein Dichter schreibt etwas einfach so. Hast du das nicht vorhin im Auto selbst gesagt? Wir sollten uns mal am Rheinufer umsehen.«
»Noch nie hat jemand im Rhein eine Nixe gesehen«, brummte Alban und schüttelte den Kopf.
Simone ging einfach weiter, und Alban folgte ihr.
Neben dem alten Rathaus, das er gestern schon bewundert hatte, fanden sie einen Fußweg, der zu einem Torbogen führte. Es war ein Durchgang in der Stadtmauer; dahinter flitzten Autos vorbei. Als sie ihn durchquert hatten, standen sie an der Rheinuferstraße. Es war nicht so einfach, hinüberzukommen, so dicht war der Verkehr. Sie legten einen kleinen Sprint hin. Dann standen sie am Rhein – vor einer graubraunen, glänzenden Wassermasse, die scheinbar völlig bewegungslos dalag. Auf der anderen Seite drängten sich die Häuser von Remagen vor bewaldeten Hügeln.
»Das Rheintal, wie wir es lieben«, sagte Alban. »Und wie es Dagmar Dennekamp liebte. Und wie willst du jetzt weiterkommen?«
»Sie spricht von einem Lande jenseits des Stroms«, sagte Simone. »Und
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