Das Gift der Engel
Rheinlandschaft, die die Romantiker so sehr fasziniert hatte.
»Gruselgeschichte klingt schon mal gut«, sagte Simone.
»Die Geschichte spielt vor ein paar Jahrhunderten. Es geht um einen jungen Mann, der wie alle Romantiker für die Liebe und die Kunst schwärmt. Dieser junge Mann ist auf Reisen und kommt in eine italienische Stadt. Jetzt fällt mir auch wieder ein, wie der junge Mann heißt. Florio.«
»Und was macht er in der Stadt?«
»Wie so oft in diesen romantischen Geschichten ist er einfach auf der Suche nach der Liebe und der Poesie. Und letztendlich auch nach sich selbst.«
»Findet er, was er sucht?«
»Ja, aber auf andere Weise, als er gedacht hat. Er lernt einen älteren, erfahrenen Sänger kennen, der Fortunato heißt. Und der lädt ihn ein, an einem Fest auf der Wiese vor der Stadtmauer teilzunehmen. Danach übernachtet Florio in einer Herberge. Dort hat er seltsame Träume. Er wacht auf …«
»Und dann erscheint ein Gespenst, oder? Ich frage nur, weil du gesagt hast, es sei eine Gruselgeschichte.«
Alban drehte das Licht an, als sie in den Tunnel bei Dollendorf eintauchten. »Da muss ich dich enttäuschen. Florio verlässt mitten in der Nacht das Haus und wandert durch Weinberge und Wälder. Die Gegend ist vom Mond beschienen, sodass er einigermaßen erkennen kann, wohin er geht. Und da gelangt er mitten im Wald an einen einsamen Weiher, an dessen Ufer eine Marmorfigur steht. Auf dem dunklen Wasser ziehen Schwäne ihre Bahnen. Die Szenerie ist so ähnlich wie in seinem Traum. Er flieht und kehrt in die Herberge zurück.«
»Sehr gruselig«, sagte Simone, und ihre Stimme troff vor Ironie. »Ich krieg gleich einen Herzinfarkt.«
»Mit den heutigen Horrorfilmen kann die Geschichte natürlich nicht mithalten. Aber Eichendorff hat ganz interessante Sachen in die Novelle eingebaut. Ich erinnere mich, dass ich mal einen Vortrag darüber gehört habe, in dem ein Germanist nachgewiesen hat, dass Eichendorff in dieser Geschichte schon das Unbewusste gezeigt hat – lange bevor Freud es entdeckte.«
»Das klingt jetzt aber sehr theoretisch.«
»Als Florio das Haus verlässt, schleicht er aus seinem Zimmer die Treppe hinunter zur Haustür. Auf der Türschwelle liegt ein schlafender Diener. Florio muss leise sein, damit er unbemerkt an ihm vorbei ins Freie gelangt.«
»Und was soll das mit dem Unbewusstsein zu tun haben?«
»Der Diener symbolisiert die Sperre, die Florio vom Unbewussten trennt. Das Bewusstsein. Und der Diener schläft. Nur so kann Florio unbehelligt das nächtliche Reich betreten, das natürlich ein Symbol für die Welt des Unbewussten ist. Als er zurückkommt, wacht der Diener auf. Florio ist wieder in seiner Welt angekommen. In der Welt des Bewusstseins, der Kontrolle.«
»Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt? Die Sache mit dem Diener kann Eichendorff doch auch nur einfach so geschrieben haben, oder?«
Alban seufzte. »Kein Dichter schreibt etwas einfach so. Und die Romantiker schon gar nicht. Außerdem: Wenn es Eichendorff nur darum gegangen wäre, einen kleinen Ausflug zu beschreiben – warum erwähnt er den Diener überhaupt? Warum sollte ein aufwachender Diener ein Hindernis sein? Florio ist Gast, und er kann machen, was er will. Die Szene muss eine andere Bedeutung haben, sonst hätte sie gar keinen Sinn.«
»Gut. Das verstehe ich. Und wie geht die Geschichte weiter?«
»Am nächsten Tag will Florio den Weiher wiederfinden, aber es gelingt ihm nicht. Der Weg, den er sozusagen unbewusst in der Nacht zuvor gegangen ist, bleibt ihm im hellen Sonnenschein nun verborgen. Das Licht der Sonne steht jetzt für den Verstand, für das Bewusstsein.«
»Er kann nicht in seine Träume zurück, weil ihm der rationale Verstand im Weg steht. Ziemlich psychologisch, da hast du recht.«
»Stattdessen gelangt er an ein goldenes Tor mitten im Wald. Und dahinter findet er ein Schloss mit einem schönen Garten. In dem Schloss lebt eine Dame, die ihm bekannt vorkommt.«
»Sieht sie aus wie die Marmorfigur?«
»Du hast es erfasst. Die Dame ist nachts eine marmorne Venus und tags eine Schlossherrin. Da hast du dein Gespenst. Und es kommt, wie es kommen muss. Florio verliebt sich und verfällt der geheimnisvollen Dame immer mehr.«
»Und wie geht die Geschichte aus?«
»Der Sänger Fortunato rettet ihn schließlich, und am Ende kommt heraus, dass das Schloss in Wirklichkeit nur eine Ruine ist. Die Herrin des Schlosses ist eine alte römische Göttin. Ein Geist, der dort umgeht und
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