Das Gift der Engel
da ist ein Bootssteg.«
»Fähre nach Remagen«, las Alban auf einem Schild. »So was brauchen die hier. Es gibt ja weit und breit keine Brücke.«
Simone kniff die Augen zusammen. Offenbar versuchte sie, etwas auf der anderen Seite des Flusses zu erkennen. Alban fixierte ebenfalls das andere Ufer und erkannte ein Boot mit langer Kabine, das dort angelegt hatte.
»Da, ein Fahrplan«, sagte Simone. Hinter einer Glasscheibe hing ein Zettel mit Fahrzeiten. Darüber gab es eine Bierwerbung von Steffens Pilsener.
»Wir brauchen uns die Zeiten gar nicht genau anzusehen.« Sie wies auf ein orangefarbenes Blatt, das darunter geklebt war. »Fährbetrieb sonn- und feiertags nach Bedarf ohne Pause von 10 Uhr bis 18.45 Uhr.« Sie ging ein Stück zur Seite, um vom anderen Ufer gut sichtbar zu sein. Dann fing sie an zu winken. »›Nach Bedarf‹, steht da. Melden wir unseren Bedarf mal an. Hoffentlich kann er uns sehen.«
»Moment«, rief Alban. »Wer sagt denn, dass wir auf die andere Seite wollen?«
»Ich denke, wir folgen Dagmars Wanderung, wie sie in dem Gedicht beschrieben ist?«
»Wir sind uns doch gar nicht so sicher, dass sie darin eine eigene Wanderung beschrieben hat. Noch dazu eine, die genau hier stattgefunden haben soll.«
»Lass es uns einfach versuchen.«
Alban nahm ihr das Tagebuch aus der Hand und las die Stelle nach. »Das mit den verwinkelten Gassen kann ich ja noch nachvollziehen. Und was sie mit ›dem Lande jenseits des Stroms‹ meinte, auch. Daraus könnte man schließen, dass sie auf der anderen Seite war. Aber das mit der Nixe ist doch Fantasie. Hier fängt ein Traum an, und die Realität hört auf. Und das bedeutet nichts anderes, als dass sie nur in ihren Gedanken da drüben war. Nicht in Wirklichkeit.«
»Ich glaube, der Fährmann hat uns gesehen.« Simone winkte wieder.
Alban kniff die Augen zusammen. Es stimmte: Das Bötchen hatte abgelegt, und der Bug drehte sich langsam Richtung Erpel.
»Wenn du unbedingt eine kleine Bootstour willst … Mir soll’s recht sein.«
»Ich glaube, du solltest dir das Boot mal genauer ansehen«, rief Simone.
Die Fähre war gerade angekommen. Der Dieselmotor tuckerte. Der Geruch nach Öl und Abgasen schlug Alban entgegen. Ein alter Mann an der Reling lächelte ihnen zu und vertäute das Boot. Plötzlich sprang Alban in die Augen, was Simone meinte. In roten Buchstaben war der Name des Bootes aufgemalt.
Er lautete »Nixe«.
Über eine kleine Treppe gelangten sie in die vibrierende Kabine und nahmen auf einer der plastikbezogenen Bänke Platz. Als das Boot anfuhr, stellte der Mann das Radio lauter. Schlagermusik wetteiferte mit dem Brummen des Dieselmotors.
Alban blickte auf das Rheinpanorama hinaus. Rheinabwärts, etwas von Remagen entfernt, drängte sich eine Kirche an den Berg. Er blätterte noch mal in dem Tagebuch und las die Stelle, an der die »Nixe« erwähnt wurde: »Von der Nixe getragen im glänzenden Licht, hinüber wo Kirche und Kreuz hoch am Berge einander sich grüßen, von den Schwänen willkommen geheißen.«
War das die Kirche, die von hier zu sehen war? Alban kannte sie. Es war die Apollinariskirche, ein neogotischer Bau aus dem 19. Jahrhundert.
Nach ein paar Minuten legte das Boot an. Alban war nicht besonders überrascht, als er beim Aussteigen zwei Schwäne auf dem Wasser sah.
»Wenn sie wirklich mit der Fähre über den Rhein gefahren ist, hat sie mit ihren nächtlichen Ausflügen schon am frühen Abend begonnen«, sagte Alban, als sie auf der Rheinpromenade standen. »Und ist erst morgens zurückgekehrt.«
»Warum auch nicht? Sie hatte ja tagsüber nichts zu tun.« Sie zeigte auf eine große Schautafel, auf der Remagen und seine Wanderwege eingezeichnet waren. Von links oben nach rechts unten schlängelte sich der Rhein, darunter breiteten sich grüne Flächen aus. Unter dem Ort Remagen nahm ein kreuzförmiges Gebilde einen Großteil der Karte ein. Es war die Stelle, wo die Bundesstraßen 9 und 226 zusammenkamen.
»Suchst du was Bestimmtes?«, fragte Simone.
» Dem Kreuze entgegen, vorbei an den stillen Bildern der Andacht, hinan wo der heilige Prediger mahnend wacht … Ich glaube, ich weiß, was das heißen könnte.«
Jetzt war es Alban, der forsch voranschritt.
»Du wirst ja richtig sportlich«, rief Simone.
»Das ist auch nötig bei der Tour, die wir vorhaben.«
Er wandte sich nicht der langen Straße mit den Häuserfronten zu, die am Rhein entlanglief, sondern er bog gleich in die erste Querstraße in den Ort
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