Das Gift der Schmetterlinge (German Edition)
Nordjüngelchen. Wenn ich was will, dann nehm ich’s mir!«
Auf sein Fingerschnalzen hin rückten die Jungen vor, ihre Augen funkelten. Wie wilde Tiere drängten sie heran. Hector schluckte schwer. Jetzt waren sie so nahe, dass er sie riechen konnte. Er hörte sie atmen. Sein Mund war trocken, als wäre er voller Holzspäne. Er biss die Zähne zusammen, hob die Fäuste und machte sich auf eine Prügelei gefasst.
Und plötzlich spürte er ihre Hände überall, seine Gegenwehr war vergeblich, er wurde überwältigt. Sie zerrten und rissen an seinem Mantel, zupften an seinen Ärmelaufschlägen und stießen ihn fast um. Hilflos ließ er den Mantel von seinen Schultern in die gierigen Hände des Angreifers gleiten. Er sah zu, wie der Junge hineinschlüpfte und laut triumphierend herumtanzte. Jemand zog ungeduldig an seinen Schnürsenkeln, Hector verlor den Halt und fiel unsanft auf den Boden. Wortlos gab er seine Schuhe her. Sie nahmen ihm die Uhr samt der Kette ab, seine seidene Krawatte und schließlich seine Handschuhe.
»Noch was?«, fragte der Anführer.
»Nur mein Taschentuch«, sagte Hector spöttisch und stand auf. Er wischte sich den gröbsten Schmutz ab, doch es war ihm klar, dass er ziemlich jämmerlich aussah. Als er unbewusst die Hand zum Hals bewegte, sprang der Anführer vor, der ihn scharf beobachtete. Er griff unter Hectors Hemd und zog an der verborgenen Lederschnur. Sie riss. Der Junge hielt sie hoch, und alle sahen, dass an ihrem Ende ein kleines schwarzes Ding baumelte.
»Was’n das?«
»Das ist ein Schmetterlingskokon«, sagte Hector langsam. Plötzlich packte ihn die helle Wut. Seine anderen Besitztümer bedeuteten ihm wenig, aber der Kokon war etwas Besonderes. Der Kokon war ein Geschenk seines Vaters und ihn würde er den Jungen nicht kampflos überlassen. Dann lächelte er, denn ihm war etwas eingefallen.
»Für den Kokon stelle ich euch eine Aufgabe.«
Der Anführer hob die Augenbrauen. Die Jungen sahen einander an und machten sich kampfbereit.
»Es hat nichts mit Fäusten zu tun, sondern mit Verstand«, sagte Hector hastig. »Ein Rätsel. Ihr könnt gemeinsam versuchen, es zu lösen, zehn gegen einen. Wenn ihr richtig ratet, könnt ihr den Kokon haben, wenn nicht, müsst ihr ihn mir lassen.«
Die Jungen grinsten und zwinkerten einander zu.
»Von mir aus«, sagte der Anführer. »Wie geht das Rätsel?«
Hector hatte das flaue Gefühl, dass er das Unvermeidliche nur hinausschob. Hielten sich kleine Gauner wie diese je an Vereinbarungen? Egal. Er musste es versuchen. Einfach aufzugeben lag ihm nicht. Er fing an:
»Es war einmal ein Königreich, in dem eine Lüge als Verbrechen galt und sogar mit dem Tod bestraft wurde.«
Sein Lumpenpublikum lachte darüber. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Hector hatte keine Ahnung. Er fuhr fort.
»Ein junger Mann, der in das Königreich reiste, hörte von dem Verbrechen des Lügens. ›Das ist Unsinn‹, erklärte er den Stadtbewohnern. › Mich wird man nicht zum Tod verurteilen, wenn ich lüge!‹
Ein Wachtposten des Königs hörte diese prahlerische Behauptung und fragte ihn: ›Hast du gerade gesagt, du könntest der Bestrafung entgehen, wenn du lügst?‹
›Nein‹, sagte der junge Mann dreist.
›Das ist eine Lüge!‹, rief die Menge. Da wurde er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.
Am nächsten Tag brachte man ihn vor den König und eine zwölfköpfige Jury.
›Man hat dich der Lüge für schuldig befunden‹, sagte der König. ›Du darfst vor deinem Tod noch etwas sagen, aber sei gewarnt: Wenn das, was du sagst, wahr ist, gibt man dir einen starken Schlaftrunk, und du wirst schmerzlos sterben. Wenn du aber etwas Lügenhaftes sagst, wirst du bei lebendigem Leib verbrannt werden und stirbst unter Qualen.‹
Der junge Mann sagte nur einen einzigen Satz als Antwort, und da blieb dem König nichts anderes übrig, als ihn freizulassen.«
Die Jungen waren still, lauschten gebannt und Hector spürte etwas wie Stolz. Ja, sie hatten ihn in ihrer Gewalt, aber auch er hatte sie gefesselt – mit seinen Worten.
»Und? Was hat er gesagt?«, fragte ein kleiner Junge in der vorderen Reihe. Er hatte sich Hectors Krawatte umgebunden.
»Eben das ist das Rätsel«, sagte Hector mit einer Spur von Triumph in der Stimme.
Eine lange Pause entstand. »Na schön, ein Rätsel eben«, sagte der Anführer schulterzuckend und schon rannten alle unter schallendem Gelächter davon.
Allein und ohne sich zu bewegen, blieb Hector auf dem
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