Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
nicht?« Der Kaffee war heftig. Zwei kleine Schlückchen hatten genügt, um mir ein bebendes, streitbares Selbstvertrauen zu geben.
» Biba ist manchmal unberechenbar.« Jules seufzte. » Wir mussten an die Kinder denken. Sie ist mit ihnen mit dem Auto spazieren gefahren.«
» Das hört sich doch nett an«, sagte ich.
» Sie war betrunken, Karen. Sie ist von hinten auf ein anderes Auto aufgefahren, und als die Polizei sie ins Röhrchen blasen ließ, hatte sie das Alkohollimit um das Dreifache überschritten. Danach konnten wir sie nicht mehr bei uns bleiben lassen, ganz gleich, wie… wie sehr sie in Schwierigkeiten war.«
» Wissen Sie, wo sie wohnt?«, fragte ich, und ein plötzlicher Gedanke ragte riesengroß in meinem Kopf auf. Nein. Das konnte nicht sein. » Sie ist doch nicht wieder in…?«
» Oh! Nein. Nein, sie ist da überhaupt nicht wieder hingegangen, nur einmal, um ihre Sachen zu holen, nachdem die Polizei alles… Sie wissen schon. Haben Sie denn etwas dort zurückgelassen? Ich fürchte, die meisten Dinge, die wir nicht identifizieren konnten, sind an Wohltätigkeitsläden gegangen, oder wir haben sie einfach weggeworfen. Ich weiß, dass Biba ein paar von Rex’ Sachen eingelagert hat, aber… na ja. Sie können sich denken, warum es uns schwerfällt, sie zu behalten.« Ein schüchternes, stolzes Lächeln trat in ihr Gesicht, und sie konnte sich nicht verkneifen, mir zu erzählen, was aus dem Haus geworden war. » Ehrlich gesagt, Sie würden die alte Hütte nicht wiedererkennen. Wir haben fünf Wohnungen daraus gemacht. Ich war überrascht, wie viel Spaß mir Immobilienentwicklung macht. Es war wirklich eine dankbare Aufgabe. Ich…« Jetzt wurde ihr bewusst, wie unsensibel sie daherredete, und sie wurde rot. Sogar ihr Erröten war damenhaft: Ein zartes, rosafarbenes Blütenblatt legte sich auf jeden Wangenknochen.
» Wissen Sie, wo sie wohnt?«, fragte ich noch einmal.
» Wir wissen, wo sie hingegangen ist«, sagte Jules und deutete damit an, dass das keineswegs dasselbe war. » Ich habe irgendwo eine Adresse. Aber es ist ein paar Monate her, dass wir sie gesehen haben.« Sie wandte mir den Rücken zu und stöberte in Küchenschubladen und Schränken herum. Irgendwann fand sie ein herausgerissenes Blatt aus einem Notizbuch. Als ich Bibas Handschrift sah, war der Schock genauso groß, wie wenn es ihr Gesicht gewesen wäre. Die hingekritzelte, einzeilige Adresse enthielt nur den halben Postcode – NW 1 – und ergab erst Sinn, als ich das Blatt umdrehte und die Karte sah, die sie gezeichnet hatte, das weit geschwungene Wasser und das kleine Boot auf einer Welle. Ich lächelte, denn jetzt wusste ich genau, wo sie war und bei wem.
» Das ist ganz in der Nähe«, sagte ich. » In Camden Town. Einfach immer geradeaus die Straße entlang, zwanzig Minuten zu Fuß.«
» Biba und ihr Vater– wir alle eigentlich, wir haben uns nicht eben freundschaftlich verabschiedet«, sagte Jules. » Sagen Sie ihr, sie ist jederzeit willkommen, wenn sie Lust hat, uns zu besuchen.«
» Nur nicht, wenn sie hier wohnen will«, blaffte ich.
» Nein.« Jetzt klang ihre Stimme hart wie Stahl. » Nicht, wenn sie hier wohnen will. Ich muss an meine Kinder denken. Wenn Sie selbst eins haben, werden Sie das verstehen.« Bei diesen Worten wanderte ihr Blick zu meinem Bauch hinunter, der unter Schichten von Wolle und Baumwolle versteckt war. Wie die meisten Frauen, denen es widerstrebt, eine dicke Frau zu kränken, war sie viel zu höflich, um die naheliegende Frage zu stellen.
Meine Wanderung führte mich weg von Hampstead und weiter, den Haverstock Hill hinunter. Oben auf der Höhe stand vor jedem Pub, an dem ich vorbeikam, eine Schiefertafel mit einem Speisenangebot, und als ich unten ankam, versuchten sie alle, die Trinker mit Musik anzulocken. Die Qualität der Gegend sank mit der Höhe über null, als ich von den stuckverzierten Stadthäusern in Belsize Park zu den Villenapartments von Chalkfarm und weiter in das eng zusammengedrängte architektonische Chaos von Camden Town kam. Nach und nach fiel mir wieder ein, wie man sich als Londonerin bewegte, und mühelos wich ich raunenden Drogendealern aus und zerteilte Trauben von Studenten mit großen Augen und Rucksäcken. Als ich bei Camden Lock die schmale Treppe zum Kanal hinunterstieg, hatte ich den tiefsten Punkt meiner Reise erreicht.
Über dem Leinpfad lag ein feiner Dunst, der sich deutlich von dem Sprühregen oben auf der Straße unterschied. Es war jetzt dunkel,
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