Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
gezeigt. Simon hatte mir eine Zeile geschrieben; er heirate Isabel und hoffe, ich sei ihm nicht böse. Ich schickte allen dreien die gleiche knappe Antwort: Ich hätte mir ein Jahr Auszeit genommen und würde mich melden, wenn ich zurückkäme. Wirkungsvoller hätte ich die Verbindung nicht durchtrennen können: Von keinem der drei habe ich je wieder gehört.
Im November erschienen noch mehr Drähte über den Straßen der Stadt. Sie waren behängt mit Lampions, die die Fenster umrahmten und die kahlen Bäume mit winzigen Lichtkugeln schmückten. Es gab ein Zwiebelfest, zu dem mehrere meiner Schüler sich als Zwiebel verkleideten und auf der Straße tanzten. Für ein paar Stunden vergaß ich wirklich meine Sorgen, bis ich plötzlich daran dachte, wie gut Biba das alles gefallen würde.
Weihnachten rückte mit seinen lebhaften Märkten heran. In der Schweiz ist der Heilige Abend, nicht der Weihnachtstag selbst, ein nationaler Feiertag, und ich verbrachte ihn mit ein paar Schülern, die nicht hatten nach Hause fahren können. Am Weihnachtstag war ich zu Sylvia und ihrer Familie in deren marmorgetäfelte Wohnung im Herzen der Altstadt eingeladen. Es gab einen traditionellen englischen Braten, und wir rissen Knallbonbons auf, die sie von Harrods hatten schicken lassen. Ich glaube, sie waren erleichtert, als ich wieder nach Hause ging. Ich weiß, dass ich es war. Die Straßen zwischen ihrer Wohnung und meinem Zimmer waren fast menschenleer, und der Springbrunnen auf dem Bundesplatz war abgeschaltet.
Die Capels waren immer noch mein vordringlichster Gedanke. Die Nächte, in denen ich nicht von ihnen träumte, waren selten. Ich hatte gedacht, Unwissenheit sei Seligkeit, aber sie ist die Hölle, und eines Tages entschied eine unsichtbare Wesenheit an meiner Stelle, dass das Wissen, und wäre es noch so furchtbar, der Stressspirale meines jetzigen Daseins unter allen Umständen vorzuziehen sei. Diese Macht steuerte mich in die Zentralbibliothek, und statt mich in meinen E-Mail-Account einzuloggen, gab sie die URL für die Lycos-Suchmaschine ein und ließ mich dann vor dem leeren Bildschirm der Möglichkeiten sitzen. Ich übernahm das Kommando wieder und sprach ein stummes Dankgebet an den Impuls, der mich hergeführt hatte. Dann schrieb ich » Bathsheba Capel« in das Suchfenster. Ich fand sie auf der Website der Internet Movie Database. Ihr kleiner Auftritt in dem Mehrteiler über Karl II . wurde erwähnt, und darunter war noch ein zweiter Fernsehauftritt aufgeführt. Der Sendetermin lag im Frühjahr 1998. Ich scrollte auf der Seite hinauf und hinunter und begriff überhaupt nichts, bis ich die Produktionsangaben las und blitzartig erkannte, dass es sich um die Komödie über den Lotteriegewinner handelte. Während ihr Bruder von der Polizei verhört wurde, hatte Biba erfolgreich für die Rolle vorgesprochen, auf die sie sich die ganze Woche vorbereitet hatte. Ich hatte geglaubt, sie könne mich längst nicht mehr schockieren, aber jetzt hatte sie es doch noch einmal getan.
Rex’ Name brachte unterschiedliche Ergebnisse. Die Details, vor denen mir gegraut hatte, fand ich in einer juristischen Online-Publikation als Beispiel für eine raffinierte Verfahrensabsprache. Der von einem Anwalt verfasste Text war in einem undurchsichtigen Juristenjargon gehalten. Es hatte keine Gerichtsverhandlung gegeben. Rex hatte sofort auf schuldig plädiert wegen Totschlags, begangen an Guy Grainger, und wegen Mordes an Tom Wheeler, und diese schnellen Schuldeingeständnisse bedeuteten, dass das Urteil außergewöhnlich mild ausgefallen war. Er hatte fünf Jahre für den Totschlag an Guy und zwanzig für den Mord an Wheeler bekommen; die beiden Haftstrafen wurden nicht addiert, sondern waren gleichzeitig abzusitzen. Zwanzig Jahre klangen nicht mild in meinen Ohren: Mein ganzes Leben noch einmal, im Gefängnis verbracht.
Sie wollten mich vielleicht nicht mehr, aber sie konnten jetzt nicht mehr behaupten, ich setzte meine oder ihre Freiheit aufs Spiel. Es war Zeit, nach Hause zu fahren. Ich hielt meine zweiwöchige Kündigungsfrist bei Sylvia ein und buchte meinen Rückflug nach London.
FÜNFUNDZWANZIG
D er Zug raste durch Essex und in die Ausläufer Londons hinein, und Satellitenstädte und Vororte zogen als verschwommene Bahnsteigschilder vorüber. Die Landschaft war flach und eintönig, verglichen mit den dramatischen Konturen der Schweiz, an die ich mich inzwischen gewöhnt hatte. Ich stellte mir vor, die schwarze Regenwolke, die mit
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