Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
durch die Straße, und ihre Heckleuchten zogen nasse Streifen hinter sich her. Von hier oben wäre es ein tiefer Fall. Ich spähte durch das vordere Fenster von Apartment 39, aber ich sah nur eine kleine, matt erleuchtete Küche mit einem Elektroherd, der Heizspiralen als Kochplatten hatte. Er war dreckig. Eine bis zum Hals mit Zigarettenstummeln gefüllte Weinflasche stand mitten auf dem einsamen kleinen Tisch an der Wand. Ich erkannte den blauen Seidenschal, der über den Lampenschirm drapiert war– ziemlich feuergefährlich und typisch Biba.
Einen Türklopfer gab es nicht, und der Briefschlitz war einer von denen, wo man sich die Haut abschürfen konnte, ohne das leiseste Geräusch zu machen. Ich klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür, aber niemand kam. Ich hämmerte. Ich ließ alles heraus und schrie den Namen, den ich monatelang mit mir herumgetragen hatte wie ein zentnerschweres kleines Geheimnis. Eine Stimme, dünn und schrill, kam aus irgendeinem unsichtbaren Winkel der Wohnung.
» Bist du das?«
Ich presste mein Gesicht an die winzige Milchglasscheibe mit dem eingelassenen, rasterförmigen Sicherheitsdraht und sah mich Aug’ in Auge mit einer gepixelten Version des Gesichts, das ich so gut kannte. Schwarze Augen starrten mich unter einem dichten Pony an. Ich drückte meine Stirn gegen das Glas, und sie verschwand. Ich hörte, wie die Riegel zur Seite geschoben wurden, laut ratternd wie ein Webstuhl, der die Welt hervorbrachte. Zuerst kamen nur Kopf und Schultern um die Tür. Ich breitete die Arme aus, und sie ließ sich hineinfallen. Aber Schock und etwas wie Entsetzen ließen mich zurückfahren, als ich den geschwollenen Ballon ihres Bauches spürte, diesen gewaltigen Kontrast zu der zierlichen Gestalt, die ich hatte umarmen wollen. Ich trat einen Schritt zurück, und was ich sah, bestätigte mir, dass sie schwanger war.
» Wieso hast du so lange gebraucht?«, fragte sie.
SECHSUNDZWANZIG
S ie füllte den schmalen Eingangsflur aus. Drinnen gab es kein natürliches Licht. Ein kastanienbrauner Teppich, blank und fleckig, bedeckte den größten Teil des Bodens, und die Strukturtapete war mit einer magnolienfarbenen Emulsion angestrichen worden, die wenig dazu beitrug, die Wohnung aufzuhellen. Wir kamen an nur zwei Türen vorbei, bevor wir am Ende des Korridors das Wohnzimmer erreichten, das von einer dreiteiligen Polstergarnitur aus braunem Kunstleder beherrscht wurde, die für ein vier Mal so großes Zimmer gedacht war. Ein stumm geschalteter, aber flackernd laufender Fernseher und ein Aschenbecher auf einem Ständer waren die einzigen anderen Möbelstücke im Zimmer. Biba setzte sich mit gespreizten Beinen in einen glänzenden Sessel. Sie hatte überall zugenommen, nicht nur am Bauch. Brüste, die größer waren als meine, lagen schwer auf ihrem vorgewölbten Leib. Arme und Beine waren pummelig, ihr Hals war dicker, ihre Wangen waren aufgedunsen, und ihre Nase war das einzig Spitze, das von einem auffallend kantigen Gesicht übrig war. Ich wusste nicht, wie ich sie je hatte schön finden können. Irgendwie fühlte ich mich verraten, als ich jetzt feststellte, dass ihr gutes Aussehen hauptsächlich davon abhängig war, dass sie sehr, sehr dünn war. Ich ließ mich ihr gegenüber auf das Sofa sinken.
» Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte ich. » Ich hatte so viele Fragen, und jetzt habe ich so viele neue.«
» Na, die nächstliegende kann ich dir beantworten: Es ist von Guy«, sagte sie. » Und es sind achteinhalb Monate, glaube ich.« Ich fing an zu rechnen, aber ich kam durcheinander. Offenbar sah sie meinen flackernden Blick, als ich an meinem geistigen Abakus scheiterte. » Ich bin ziemlich sicher, dass es gleich beim ersten Mal passiert ist.«
» In der Nacht, als du im Krankenhaus warst? Nach deiner Aufführung? In der Nacht hast du ein Kind gezeugt?«
» Hmmm. Ist kein besonders vielversprechender Start ins Leben, was? Ein Fick im Suff, an einem Baumstamm. Und dann das hier…« Sie deutete im Zimmer umher und zündete sich eine Zigarette an. » Ich weiß, ich weiß. Halte mir deinen Vortrag jetzt, dann haben wir’s hinter uns.«
» Du bist dick .«
» Musst du gerade sagen. Was ist denn mit dir passiert?«
» Es hilft nicht gerade, dass ich alle meine Kleider auf einmal anhabe«, sagte ich abwehrend. Ich schälte zwei Schichten herunter und war um zwei Kleidergrößen dünner. » Das passiert einem in der Schweiz. Da gibt’s nur Bier und Käse. In London werde ich
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