Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
einmal ein. Ich beschloss, ein Weilchen zu warten und den ersten wirken zu lassen. Er umfasste meine Hände. » Na gut. Ich glaube, du bist hier, weil du deine Freundin sehen willst.«
Ich nickte.
» Sie wird sich freuen, dich zu sehen, Karen.«
» Du erinnerst dich an meinen Namen!«, sagte ich.
» Natürlich. Sie redet dauernd von dir.«
» Ist sie hier?« Meine Stimme brach, und Tränen wollten mir in die Augen steigen.
» Nicht mehr.« Jetzt kamen mir echte Tränen der Enttäuschung, und ich kippte meinen Brandy herunter. Arouna wischte meine Tränen mit einem nach Knoblauch riechenden Daumen weg. » Nicht weinen, Kind. Sie ist nicht weit weg.«
» Danke. Ich bin dir wirklich sehr dankbar. Wirklich.« Ich sprach von seinem Brandy ebenso wie von dieser Neuigkeit.
» Sie war eine Weile hier. Ich hab für Nina auf sie aufgepasst.«
» Hast du in letzter Zeit von Nina gehört?« Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir Nina her. Sie war der einzige Mensch auf der Welt, dem ich meine Geschichte erzählen könnte.
» Sie ruft alle paar Wochen an. Ist immer noch auf Reisen. Wenn sie sich endgültig niederlässt, fahre ich hin. Im Moment ist sie in Indien. Gaia ist letzte Woche drei geworden, aber Nina hat gesagt, ich soll ihr kein Geschenk schicken. Sie werden nicht mehr da sein, wenn es ankommt.« Er sagte es geduldig und ohne Bitterkeit.
» Hat Biba Kontakt mit Nina?«
» Sie haben immer Kontakt, diese Frauen. Sie finden einander überall auf der Welt, wenn es sein muss. Aber hör zu. Du willst wissen, wo sie ist, ja? Sie ist in einer Wohnung. Das Sozialamt hat sie meinem Freund gegeben, und sie kümmert sich drum, solange er auf Reisen ist. Auf dem Hausboot ist es zu feucht für sie. Es ist nicht gesund, hier zu wohnen.«
» Ist sie allein?«
» Ja. An meinen freien Tagen gehe ich sie besuchen, aber sie lebt allein.«
» Hast du ihre Adresse? Bitte?« Eine klägliche Dankbarkeit für Arounas Hilfe und Freundlichkeit kämpfte mit der ungeduldigen Erwartung eines Wiedersehens mit ihr.
» Ich weiß was Besseres. Ich bringe dich hin.«
Der Temperatursturz, der um diese Jahreszeit den eigentlichen Unterschied zwischen Tag und Nacht ausmacht, hatte die Luft bitterkalt werden lassen. Mit seinen langen Beinen überwand Arouna die Lücke zwischen Boot und Land mühelos, und dann hob er mich hinunter auf festen Boden. Ich landete in einer Pfütze und spürte, wie eine eisige Feuchtigkeit hereinkroch, die mir verriet, dass die Sohle meines Stiefels sich vom Oberleder getrennt hatte. Arouna trug meinen Rucksack; ohne ihn fühlte ich mich leichter, als mein Übergewicht eigentlich zuließ.
» Glaubst du, sie ist da?«, fragte ich, als wir Haverstock Hill hinaufstiegen.
» Oh, sie ist immer da«, sagte er. Wir bogen nach rechts in die Prince of Wales Road. Mit jedem Schritt entfernten wir uns weiter von jeder Gegend, in der ich mir Biba vorstellen konnte. Wir kamen an einem flutlichtüberstrahlten, von Jugendlichen wimmelnden Fußballplatz vorbei, am benachbarten Freizeitzentrum und einem Bahnhof– Kentish Town West–, den ich auf Stadtplänen gesehen hatte, aber noch nie in Wirklichkeit. Ich begriff, dass wir im Niemandsland zwischen den beiden Zweigen der Northern Line unterwegs waren. Zu beiden Seiten dehnten sich flache Wohnblocks, allesamt mit dem Logo des Bezirks Camden. Ein paar der attraktiveren Klinkerbauten waren alt genug, um noch das Zeichen der Corporation of London zu tragen, aber das Gebäude, vor dem Arouna stehen blieb, war ein zehnstöckiger grauer Turm aus großen Betonplatten.
» Hier wohnt sie?«, fragte ich ungläubig. Ich brauchte nur einen Blick auf den mit Graffiti bedeckten Aufzug zu werfen, um zu wissen, wie es darin riechen würde. Arouna lachte, aber es klang nicht unfreundlich.
» Sechster Stock, Apartment Nummer 39«, sagte er. Ich schaute hoch und wollte sehen, welches der beleuchteten Fenster ihres sein mochte.
» Stört’s dich, wenn ich allein hingehe?« Er hängte mir meinen Rucksack über die Schultern. Wollte er mir etwas sagen? Zweimal holte er Luft, um zu sprechen, und zweimal klappte er den Mund wieder zu.
» Bring diesem Mädel alles Liebe von mir.«
Ich riskierte es, den Aufzug zu betreten, und ich schaffte es, nicht einzuatmen, während er sich ächzend in den sechsten Stock plagte, wo er mich ausspuckte. Ein offener Laufgang verband die einzelnen Wohnungen miteinander, und ich warf einen Blick über das abblätternde Geländer nach unten. Autos krochen dort
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