Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
sondern unergründliche dunkelblaue Seen. Die Lider senkten sich wieder, zwei perfekte Muscheln, rosig und glänzend, und ihre Wimpern waren wie dichtes, schwarzes Schilf. Ich fühlte, wie die kleine Gestalt in meinem Arm erschlaffte. Sie sah plötzlich aus wie ein alter Mann, der nach einer halben Flasche Whisky vergnügt in seinem Lieblingssessel einschlief.
» Jetzt ist sie zufrieden«, sagte ich zu Biba. Aber sie schlief ebenfalls.
Ohne jede Diskussion war ich die Amme der Kleinen geworden; ich fütterte sie geduldig und war zuversichtlich, dass Biba sich schon in das kleine Mädchen verlieben würde, wenn die Erschöpfung, die sie seit der Rückkehr aus der Klinik ans Bett fesselte, vorüber wäre. Ich war das einzige Kind zweier Einzelkinder und hatte noch nie ein Baby auch nur auf dem Arm gehabt. Ich besaß keine Erfahrung, nur eine Handvoll Informationsblätter und ein Buch über Babypflege aus dem Secondhandladen in der Nachbarschaft, um mich mit der verwirrenden Vielfalt von Fertigkeiten auszustatten, die nötig waren, um einen Säugling trocken, warm, satt und lebendig zu erhalten. Manchmal blätterte ich mitten in der Nacht in dem Buch; mit meiner freien Hand fuhr ich in panischer Hast über das Stichwortverzeichnis, und die Buchstaben auf der Seite vor mir schienen immer wieder die Plätze zu tauschen, weil Schlafmangel und das Geschrei des Kindes mich der Fähigkeit zum Lesen beraubten. Ich hatte schon einmal geglaubt, ich sei müde, nämlich in den Tagen unmittelbar nach den Morden, aber jetzt hatte ich mit einer Erschöpfung zu kämpfen, die so lähmend war wie nur irgendeine Krankheit, die ich je erlebt hatte. Die selbstlose Plackerei, die dabei erforderlich war, fiel mir nicht leicht – und Biba schon gar nicht: Sie überließ es ganz zufrieden mir, das Baby zu füttern und seine Windeln zu wechseln, während sie sich erholte. Rex wäre hier ein Naturtalent gewesen, dachte ich, als ich in einer eiskalten Nacht Trockenmilch in aufgekochtes Wasser rührte. Wir brauchten Rex.
Nach zehn Tagen weigerte Biba sich immer noch, das Baby mit einem Geschlecht zu versehen, und blieb hartnäckig bei » es«. Wenn ich mit der Flasche kam und Biba Gelegenheit bot, ihre Tochter zu füttern, drehte sie sich auf die Seite und erklärte, sie fühle sich noch nicht gut genug und schaffe das nicht. Sie fühlte sich allerdings gut genug, um zu trinken; es stellte sich heraus, dass sie einen Vorrat von Weinkartons in einem Verschlag unter der Treppe aufbewahrte. Vielleicht hatte sie sich schon während der gesamten Schwangerschaft daran bedient, vielleicht auch nicht. Ein solcher Karton balancierte auf der Armlehne des Sofas, und wir tranken daraus, als ich wieder einmal versuchte, das Gespräch auf einen Namen für das Baby zu bringen. Biba blockierte meine Frage mit einer verblüffenden Wendung.
» Er musste Armenrecht in Anspruch nehmen, weißt du«, sagte sie. Seit meiner Rückkehr aus der Schweiz hatte ich schon öfter versucht, mit ihr ein Gespräch über die Nacht zu führen, die uns in diese Situation gebracht hatte. » Das ist wirklich gut. Du kriegst einen Rechtsberater und einen Verteidiger, und die wissen genau, wie man mit dem System umgehen muss. Sie waren wirklich sehr clever. Die Polizei kannte die Pistole schon, praktisch so, als wäre sie eine vorbestrafte Person. Sie konnten sie zu einem Typen zurückverfolgen, den Guy kannte, und deshalb wussten sie, dass Rex die Waffe nicht… wie haben sie gesagt? Ach ja: Rex hatte die Waffe nicht beschafft, und deshalb war es Totschlag oder Notwehr oder so was. Dafür kriegt man fünf Jahre, aber man kommt nach zweieinhalb raus. Sechs Monate hat er schon abgesessen; also wäre er in zwei Jahren frei, wenn er Tom Wheeler nicht erschossen hätte.«
» Er hat Tom Wheeler nicht erschossen!«, widersprach ich. » Das warst du!«
» Sorry.« Sie kicherte. » Ich hab es so oft gehört, dass ich es inzwischen schon beinahe selber glaube. Der Trick beim Lügen besteht darin, dass man so nah wie möglich bei der Wahrheit bleiben muss. Rex hat die Wahrheit gesagt: Guy wurde in Panik erschossen, aber das ist eigentlich immer noch keine Entschuldigung. Das war keine Notwehr, weißt du, es war Mord, und er hat sich auch schuldig bekannt.«
Ich presste beide Fäuste an meine Wangen.
» Eigentlich geht es um Geld. Sie machen sich nicht die Mühe, deine Geschichte infrage zu stellen, wenn du dich schuldig bekennst, denn dann sparen sie eine Menge Verfahrenskosten und so
Weitere Kostenlose Bücher