Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
auf dem Sofa, und ich hatte das Schlafzimmer mit dem Baby. Niemand hätte vermutet, dass wir keine Fremden waren, und schon gar nicht, dass sie mich einmal in ihr magisches Vertrauen gezogen und mir unter dem Vollmond ewige Freundschaft versprochen hatte. Sie verschwand in ihrer eigenen Welt, und diesmal lud sie niemanden ein, ihr zu folgen.
Ich blieb ihrem finsteren Brüten zum Trotz und hoffte gegen allen Anschein, dass unsere Freundschaft noch zu retten war. Von meinen Eltern abgesehen gab es niemanden, zu dem ich gehen konnte, und außerdem brauchte sie mich. Als ich eines Nachmittags aus dem Supermarkt kam, stand Biba am Balkongeländer. Das kleine Mädchen, halb erfroren, trug nur ein Jäckchen und eine schmutzige Windel, und sie balancierte es eher auf dem Geländer, statt es zu tragen. Ihr Griff war kraftlos, und wenn die Kleine sich unerwartet bewegt oder mit Armen und Beinen gezappelt hätte, wie sie es tat, wenn sie erschrocken war, dann hätte sie leicht in den Tod fallen können. Als ich die Arme nach ihr ausstreckte, ließ Biba sie einfach los, und sie wäre abgestürzt, wenn ich sie nicht im letzten Moment noch zu fassen bekommen hätte. Biba hatte das Leben ihres Kindes riskiert, um mich zu zermürben und zu erschrecken. Eisiges Unbehagen erfüllte mich, als mir klar wurde, dass ich sie nicht verlassen konnte.
Sie hatte den Zettel in die Brusttasche des kleinen Strampelanzugs gestopft.
» Ich habe genug. Ich kann nicht hier bei Dir bleiben, und ich kann nicht für das Baby sorgen. Es tut mir leid, so leid. Sag Rex, ich liebe ihn. Biba.« Diesmal lockerten keine Sternchen und keine Smileys die Seite auf, aber unten rechts stand ein PS . » Mir gefällt der Name Alice.«
Meine Tasche war ausgekippt worden, mein Portemonnaie geöffnet. Meine Karten und meinen Führerschein hatte sie dagelassen, aber vierzig Pfund in bar waren verschwunden, und mein Autoschlüssel hing nicht am Haken neben der Tür, wo ich ihn hingehängt hatte. Ich legte das weinende Kind auf meine Schulter und schaute vom Balkon hinunter. Da war die Stelle, wo mein Auto gestanden hatte, ein hellgraues Rechteck, unberührt von dem Regen, der die ganze Nacht gefallen war.
SIEBENUNDZWANZIG
F ünf Tage später, halb von Sinnen vor Erschöpfung und mit dem sabbernden Baby in seinem Tuch an meiner Schulter, riskierte ich, die Telefonleitung zu blockieren und meine Eltern anzurufen. Es war fast drei Wochen her, dass wir zuletzt miteinander gesprochen hatten. Für sie war ich immer noch in der Schweiz, und noch, als ich ihr Telefon klingeln hörte, wusste ich nicht, ob ich ihnen sagen sollte, wo ich in Wirklichkeit war. Als meine Mutter sich meldete, war die Erleichterung in ihrer Stimme unverhältnismäßig groß.
» Gott sei Dank, Gott sei Dank.« Sie war einer Hysterie nahe. » Karen, Gott sei Dank! John!«, rief sie, bevor ich ihr oder sie mir etwas erklären konnte. » Sie ist es!«
» Was ist denn los, Mum?«, fragte ich. » Ich hab mich doch nur zwei Tage verspätet.« Alice wurde unruhig an meiner Brust, und ihr Mund suchte nach dem Fläschchen. Ich hatte keins vorbereitet und verfluchte mich jetzt für dieses Versäumnis. Ich machte den kleinen Finger krumm und schob den Knöchel in ihren Mund.
» Eher eine volle Woche, oder? Ist alles okay?«
Nein. » Ja.«
» Seit wann bist du wieder da?« Jetzt war auch mein Dad in der Leitung. Sein eindringlicher Tonfall entwaffnete mich, und alles, was ich mir zurechtgelegt hatte, war vergessen.
» Woher weißt du das?«
» Die Polizei hat uns angerufen«, sagte Mum, und meine Gelenke wurden sehr locker.
» Was haben sie gewollt?« Ich bemühte mich, neutral zu klingen.
» Sie haben dein verlassenes Auto gefunden, bei Beachy Head. Wir dachten schon, du hättest etwas Dummes angestellt.«
Ich erinnerte mich an ein großes, quadratisches Buch mit brüchigem Rücken und dem Foto einer weißen Klippe. Die Erinnerung an dieses Foto war genauso lebhaft wie jedes andere Bild aus diesem Sommer. Die Haschisch- und Tabakbröckchen in dem Knick zwischen den aufgeschlagenen Seiten. Ich sah die geschwungene Kante des Steilfelsens vor mir, wo das Gras, weich wie Flanell, auf dem Kreidegestein wuchs. Und dann sah ich die Ansammlung der parkenden Autos in der unteren eselsohrigen Ecke der Seite, so klein, dass sie aussahen wie winzige Plastikperlen. Mein Auto würde in den letzten paar Tagen auch dort gestanden haben. Ob es noch da war? Mir kam der ganz unangemessene Gedanke, dass Biba niemals die
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