Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
trotzdem mit– als eine Art Talisman. Gelegentlich klopfte ich mit der flachen Hand an meine Schultertasche, um mich zu vergewissern, dass es noch da war, beruhigend weich und solide. In der Tasche war außerdem eine Flasche Sekt, die sich zu kalt angefühlt hatte, als ich sie aus dem Kühlschrank nahm, die aber jetzt zusehends und auf unangenehme Weise die Wärme meines Körpers und des U-Bahn-Wagens absorbierte. Ein nicht vorhergesagter, glühend heißer Tag kündigte die alljährliche Entblößung teigig weißer Haut an– oder, in meinem Fall, die Gelegenheit, mit der Sonnenbräune anzugeben, die ich beim mittäglichen Laufen im Regent’s Park erworben hatte. Ich trug Doc-Martens-Stiefel, um den Sockenrand zu verbergen, und ein grünes, gebatiktes Sonnenkleid, das ich auf einem Flohmarkt in Spanien gefunden und nie getragen hatte, weil Simon es nicht ausstehen konnte. Das Spiegelbild im konkav gewölbten Fensterglas zeigte mir ein nervöses Mädchen, das an der Tasche auf seinem Schoß nestelte. Also schloss ich die Augen und lehnte den Kopf an die klamme Abteiltrennwand aus Plastik, und ich schaute nur hinaus, wenn wir anhielten. Je näher Highgate kam, desto nervöser wurde ich.
Jede U-Bahn-Station hat ihren eigenen, eigentümlichen Geruch. Wenn Regent’s Park nach Kacheln und Ruß riecht, dann ist es in Highgate das Fahrstuhlöl, das ich bis dahin nur in Italien gerochen hatte. Ich weiß nicht, warum; wahrscheinlich hat es etwas mit den Rolltreppen zu tun, die zu den längsten gehören, die ich je gesehen habe. Ein beklemmend steiler Betonschlauch sog mich aus dem Bahnhof und hinauf zur Queenswood Lane. Beim Anblick des Straßenschilds, das mein Ziel schwarz auf weiß bezeichnete– das N6 eine kleine rote Fußnote in der rechten unteren Ecke–, überkam mich eine neue Welle von Spannung und Entsetzen. Ich lehnte mich für ein paar Sekunden an den Zaun, um den Schweiß auf meiner Stirn verdunsten zu lassen. Mein Haar, das ich erst zwei Stunden zuvor gewaschen hatte, klebte mir am Schädel. Ich senkte den Kopf und massierte mir die Haarwurzeln, und verzweifelt sah ich den strähnigen blonden Vorhang, der mir über die Augen fiel.
Vor mir schimmerte die Waldstraße in der Hitze des frühen Abends; die Häuser waren verschwommen, die Bäume verwischt wie auf einem impressionistischen Gemälde. Dass ich keine Hausnummer hatte, machte nichts; ich folgte einfach den Beats, dem Geschrei und Gelächter. Das Haus selbst stand ungefähr drei Meter weit entfernt von seinen Nachbarn in der Straße, von ihnen getrennt durch einen ungepflegten Verhau aus Gestrüpp und Müll. Hoch, schmal und schäbig, stand es da wie ein schmollender, schmuddeliger Teenager, der nichts mit den anderen zu tun haben wollte. Aus der Nähe schien es Hitze auszustrahlen wie ein riesiger Brennofen. Wie viele Körper mochten dort drinnen ihre Wärme verströmen? In den meisten Fenstern sah man zwei oder drei Gestalten, die redeten, tanzten, rauchten oder alles gleichzeitig taten. Es war ein großes Haus, viel zu groß für zwei Leute. Ich fragte mich, ob es das Haus der Familie gewesen war und, wenn ja, ob der Tod diese Familie zerschlagen oder aufgelöst hatte. Waren die Eltern zusammen gestorben oder einzeln? Jedes Szenario war von verzweifelter Tragik und zugleich von gewaltiger Faszination.
Ich sog die Schweißperlen von meiner Oberlippe, fand das alte Seil eines Klingelzugs und zog daran. Als niemand kam, drückte ich leicht gegen die Tür. Sie schwang weit auf. Die Luft im Haus war anders– heißer, stickiger, erfüllt vom Geruch von Rauch, Körpern und Räucherstäbchen. Es fühlte sich an, wie wenn man in einem fernen Land mit einem anderen Klima aus dem Flugzeug steigt und den ersten Schritt in die neue Atmosphäre tut. Ganz gleich, wie viel man geplant und was man eingepackt hat, erst wenn man die schwüle Luft in der Lunge spürt oder der eisige Wind auf den Wangen brennt, wird einem klar, dass man jetzt wirklich in einem fremden Land ist.
FÜNF
I ch weiß, das Bedeutsamste an dieser Party ist, dass ich Mörder und Opfer zum ersten Mal zusammen sah. Aber wenn ich daran denke, sehe ich es leider nicht als düsteres, unheilvolles Zusammentreffen zweier verdammter Seelen. Ich erinnere mich nur an den besten Abend meines Lebens. Es war der Wendepunkt zwischen Unschuld und Erfahrung, ein Moment des vollkommenen Vergnügens, nach dem der Abstieg ins Chaos begann, zunächst so unterschwellig, dass ich gar nichts bemerkte, aber dann
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