Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
ist und weil ich mich bemühe, ihr ein gutes Beispiel zu geben. Aber heute sause ich im Freilauf die sanft abschüssige Straße hinunter, strecke die Beine zu beiden Seiten der Pedale aus und lasse mir das Haar vom Wind auskämmen. Die ebene Landschaft von Suffolk ist ihres Laubs beraubt, und die kahlen Äste lassen sie flacher und endloser denn je erscheinen. Die Straße zieht sich hin, so weit das Auge reicht, und ich bin versucht, über den Horizont zu radeln und nie mehr aufzuhören. Ich kenne Leute, die das getan haben. Nina hat es dauernd getan. Warum nicht auch ich? Wenn ich weg bin, haben Rex und Alice immer noch einander. Aber ich weiß, dass ich es nicht tun werde, jedenfalls nicht wirklich. Es ist nur ein unheimlicher Impuls– der gleiche verrückte Instinkt, der dich verlockt, von einer Klippe zu springen, wenn du an ihrem Rand stehst. Die Straße gabelt sich, und mein Muskelgedächtnis oder mein Pflichtgefühl oder beides lassen mich nach links lenken. Ich nehme die Kurve mit geschlossenen Augen, denn ich kenne die Straße gut genug, um dieses kleine Risiko einzugehen. Als ich sie hinter der Biegung wieder öffne, sehe ich die Reihen der kleinen roten Häuser und Straßenschilder des Dorfrands.
In dem kleinen Supermarkt fülle ich den Korb mit Lebensmitteln und nehme dann auch noch eine Flasche Sekt. Solange wir getrennt waren, habe ich kaum etwas getrunken, und ganz sicher niemals allein. Jetzt, gerade eine Woche, nachdem Rex nach Haus gekommen ist, gehört die mit ihm getrunkene Flasche Wein– Weißwein natürlich– genauso zu unserem gemeinsamen Abend wie in dem ersten Sommer, den wir zusammen verbracht haben. Ich weiß, dass er es sehnsüchtig vermisst hat. Nicht nur den Alkohol, sondern das Privileg und die Freiheit zu entscheiden, wann der Tag zu Ende ist, und dann schweigend oder in Gesellschaft in seinem eigenen Haus etwas zu trinken. Ich trinke heute sehr anders. Damals war Wein meistens etwas, das ich getrunken habe, um meinen Spaß zu finden, um Abenteuer zu erleben und um diese Augenblicke zu verlängern, wenn sie stattfanden. Heute tue ich es, um den Abend zu überstehen. Mehr als eine Flasche trinken wir am Abend nicht, zumindest bisher nicht.
Ich treffe Dawn Saunders an der Feinkosttheke. Dawn wohnt in einem dieser großen Häuser an der Aldeburgh Road und ist niemals wissentlich underdressed. Ihr Mann führt eine der größten Leiharbeitsfirmen in Südostengland, aber seit dem Tag, an dem sie nicht mehr seine Angestellte, sondern seine Frau war, hat sie nicht mehr gearbeitet. Heute trägt sie eine weiße, ausgestellte Hose und ein taupefarbenes Wickeltop, das ihre adretten Kurven umschmiegt. Ihre Tochter Sophie ist mit Alice in einer Klasse, aber die beiden werden sich nächstes Jahr trennen, wenn Dawn ihr Kind auf eine große Privatschule weiter oben an der Küste schickt, während Alice zur örtlichen Gesamtschule geht. Dawn ist eine Bekannte, aber wenn jemand hier aus dem Ort mich fragen würde, würde ich wahrscheinlich sagen, sie ist meine Freundin. Wir geben uns einen Luftkuss, bei dem sich unsere rechten Wangen nicht ganz berühren, und sie beugt sich herüber und späht in meinen Korb.
» Schampus, hm?« Es ist Prosecco, aber ich korrigiere sie nicht. Dawn spricht in den runden Wimmertönen dieser Gegend. Ihre Kinder klingen jedenfalls nicht wie sie; das ist das Ergebnis der als Theater- AG getarnten Sprecherziehung am Samstagmorgen. Ich frage mich oft, warum sie so viel vom Geld ihres Mannes für die Ausgestaltung ihres Hauses und ihres Körpers ausgegeben und dabei nie versucht hat, ihre eigene Sprechweise zu verändern. In ihrer Situation wäre es das Erste, was ich in Angriff nähme. » Was gibt’s denn zu feiern?«
Ich habe es immer absichtlich im Dunkeln gelassen, wo Alices Vater sich aufhält. Manche halten mich für eine Witwe, andere glauben, er sei unbekannt. Wenn ich Dawn jetzt von unserer veränderten Situation erzähle, ist das so gut, als ob ich eine Mitteilung an das Schwarze Brett hinter den Kassen gepinnt hätte.
» Alices Dad wohnt wieder bei uns.« Ihr Mund wird kreisrund, und ihre Augen quellen aus den Höhlen. Sie sieht aus wie die Forelle auf der Platte hinter ihr. » Wir haben beschlossen, noch einen Versuch zu wagen.«
» Das ist fabelhaft, Karen.« Mit einer kürzlich manikürten Hand berührt sie meinen Unterarm. Drei Brillantringe, ein Verlobungs-, ein Ehe- und ein Memoryring, lasten schwer am Ringfinger. » Es wird Alice so guttun, einen Vater
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