Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
wiederholte, die ihre » Figuren« eben ausgesprochen hatten. Sie war davon überzeugt, dass eine ernsthafte Schauspielerin zugleich auch Anthropologin sein müsse, aber sie war eher philanthropisch und brachte anderen Menschen ein echtes Interesse entgegen, das über ihren Wunsch hinausging, Stimmen und Eigenheiten nachzuahmen. Sie fühlte sich nicht hingezogen zu Leuten, die genauso waren wie sie selbst, mit einer Persönlichkeit, die einem Frontalangriff vergleichbar war, sondern zu denen, die sich geduckt herumschlichen und andere daran arbeiten ließen, ihre Geschichten zu erraten. Nach und nach teilte ich ihre Überzeugung, dass selbst die graueste Maus unter den Vorübergehenden irgendwo ein paar knallbunte Hintergrundgeschichten verbuddelt hatte, und das glaubte sie vielleicht, weil ihre eigene Vergangenheit ein Strudel des Chaos und der Geheimnisse war.
Als ich mich endlich aus dem Café hatte loseisen und meinen Heimweg hatte antreten können, taten mir meine unelastischen Wangenmuskeln weh vom stundenlangen Lachen. Wir hatten über mehrere Leute unsere Mutmaßungen angestellt, unter ihnen die Kellnerin des Cafés, drei Männer, die im Pub an verschiedenen Fenstern saßen und ein frühes Pint genossen, eine hochschwangere Frau, die einen Kürbis schleppte, und eine ältere Frau, die– wie wir entschieden– vielleicht einmal eine Nonne gewesen war, das Kloster aber wegen einer Liebesaffäre verlassen hatte, die dann ranzig geworden war. Zu meinem Entzücken erschien das Paar von der Bushaltestelle dann hinter mir auf der Rolltreppe, die zur U-Bahn hinunterführte, und sie zankten sich über die Frage, ob man schneller mit der U-Bahn oder mit dem Bus zur London Bridge kam. Ich sprach ein stummes Dankgebet für die glückliche Fügung, dass sie dieselbe Bahn in Richtung Süden nahmen wie ich. Die beiden faszinierten mich: Sie küssten sich wie ein heimliches Liebespaar, aber sie stritten wie alte Eheleute. Ich setzte mich unsichtbar ihnen gegenüber, entschlossen, das Rätsel ihrer Beziehung zu lüften und ihre Geschichte für Biba aufzuheben.
Ich schloss die Tür auf und betrat ein leeres Haus, erfüllt vom Kiefernduft eines Lufterfrischers, einem scharfen Chemiegeruch, der sich von echtem Kiefernduft unterschied wie Plastik von Holz. Ich war mit dem Kochen an der Reihe. Der Kühlschrank war voll von Wein, und ich sah zwei Körbchen mit Champignons und eine kissenförmige Zellophantüte Spinat. Zwei abblätternde Schalotten rollten im Gemüsefach herum, die einzigen unverpackten Lebensmittel im ganzen Haus. Ich warf einen Blick ins Tiefkühlfach, und richtig, die Eiswürfelschale war voll von gefrorenen gelben Würfeln. Dass Weinflaschen nicht ausgetrunken wurden, kam hier oft vor, und Sarah, die nichts wegwerfen konnte und einen Kochkurs absolviert hatte, bevor sie in dem Jahr zwischen Schule und College als Hausmädchen gearbeitet hatte, fror die Weinreste ein und benutzte sie für komplizierte Rezepte, die sie sich als Einzige zumutete. Dass so etwas in der Queenswood Lane passierte, konnte ich mir nicht vorstellen. Dort trank man die Flaschen aus, und wenn nicht, füllte man sie mit Zigarettenstummeln oder benutzte sie als Kerzenhalter, während der Fingerbreit Wein, der noch darin war, gerann und sich langsam in Penicillin verwandelte. Ich knickte die Eisschale, und vier Würfel platzten heraus und landeten auf der Arbeitsplatte. Ihre rissige, blasige, ungleichmäßige Beschaffenheit verriet mir, dass sie in ihrem flüssigen Leben aus Champagner bestanden hatten. Was waren das für Leute, die Champagner zum Kochen aufhoben?
Die blanken Kachelwände der gut eingerichteten Küche fingen an zu schwanken und mich zu bedrängen, und sie erregten Zorn und Klaustrophobie. Der Küchendienstplan mit seinen Häkchen starrte höhnisch von der Wand zu mir herunter. So sollte eine Studentenküche nicht aussehen: Kiefernholzmöbel mit dunkelbraunen Arbeitsflächen und Einbaugeräten. Ich war nicht so sehr hinüber, dass mir nicht klar war, wie absolut irrational diese von Eiswürfeln ausgelöste Woge von Panik und Wut war, aber diese Einsicht verringerte sie nicht. Ich wusste jetzt, ich hätte die letzten paar Jahre damit verbringen sollen, mein Immunsystem zu trainieren– und zwar in einer Küche wie der in Bibas Keller. Ich näherte mich dem Ende einer vierjährigen Periode, in der sich alles um Verantwortungslosigkeit und Schmutz hätte drehen müssen, und in dieser Zeit hatte ich in einem Haus gewohnt, das
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