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Das giftige Herz

Das giftige Herz

Titel: Das giftige Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Doyle
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und zogen den noch immer von dem weiten Mantel gänzlich verhüllten Körper ins Haus.
    Der Gewürzhändler stieß einen leisen Schrei aus. Doktor Seidel beugte sich nach dem Leuchter und hob ihn hoch. Es wurde etwas heller im Lagerraum.
    Mit viel Mühe und Anstrengung gelang es Wanner und dem Polizisten, den Körper hereinzuhieven. Dann stolperte der Wachtmeister, Wanner wurde beiseite gestoßen, und die Leiche fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Augenblicklich stand Doktor Seidel daneben. Wanner kniete sich hin und drehte den Körper vom Bauch auf den Rücken. Das Lebkuchenherz lag jetzt auf der Brust des Mannes. Inspektor Wanner schob dem Toten die weite Kapuze aus dem Gesicht.
    »Mein Gott!«, entfuhr es Doktor Seidel. »Aber das ist ja Ehrenhoff!«
    »Ehrenhoff?« Wanner war noch nicht lange genug in der Stadt, um alle wichtigen Persönlichkeiten zu kennen.
    »Jakobus Ehrenhoff, der Ratsherr. Um Himmels willen, was ist nur passiert?«
    »Ich glaube, das sollten Sie jetzt möglichst schnell herausfinden«, sagte Wanner.
    Er selbst nahm dem Toten behutsam das Lebkuchenherz ab und wandte sich an den Gewürzhändler, der sich in die von der Leiche am weitesten entfernte Ecke des Raums zurückgezogen hatte: »Eine Schachtel bitte, Herr Wetzel. Ich muss dieses Beweisstück sichern.«
    Wetzel lief hastig los, nahm eine Schachtel vom Regal, sah nach, ob sie leer war, und reichte sie dem Inspektor, der das Lebkuchenherz hineinlegte und die Schachtel mit dem dazugehörigen Deckel verschloss.
    Wie kam ein angesehener Patrizier der Stadt dazu, sich ein Lebkuchenherz umzuhängen?, fragte sich Wanner.
    »Ich glaube nicht, dass der Tod durch Erhängen eingetreten ist«, sagte Doktor Seidel.
    »Er ist vergiftet worden«, sagte Wanner.
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Wanner zuckte mit den Schultern und deutet auf den offen stehenden Mund des Toten.
    »Die Zunge sieht genauso aus wie bei dem Jungen, den wir im Stadtgraben gefunden haben.«
    In diesem Moment stürmte der Oberrat herein.
    »Was ist hier …?«
    Er blieb abrupt stehen und starrte die Leiche an.
    »Ehrenhoff?«
    Dann sah er hilflos und verwirrt Wanner an. Der zuckte mit den Schultern. Was sollte er schon sagen? Für ihn war es eine Leiche wie jede andere.

6 D AS FAMILIENERBE
    Als Jacques Pistoux am Morgen, oder besser gesagt mitten in der Nacht aufstand, hatte er kaum Wasser, um sich zu waschen. Es war so kalt geworden, dass die Eisschicht in seiner Waschschüssel sehr dick geworden war.
    Bibbernd vor Kälte zog er sich an und eilte nach unten in die Küche, wo er dankbar seinen heißen Zichorienkaffee trank. Ein kurzer, sehnsüchtiger Gedanke an seine Heimatstadt Nizza, in der es niemals so kalt wurde wie hier in Nürnberg, dann betrat er die Backstube und nahm sich den Brotteig vor.
    Nachdem sie die verschiedenen Brote und kleineren Backwaren fertig hatten und alles auf den Regalen und in den Körben im Laden lag, setzte sich Bäcker Dunkel an den großen Küchentisch und nickte nachdenklich mit dem Kopf. Seine Frau brachte die Kaffeekanne, Brot und Leberwurst und verschwand dann wieder, um die Kundschaft zu bedienen. Dunkel schmiert sich die Leberwurst heute viel bedächtiger als sonst aufs Brot, dachte Pistoux. Er aß langsamer und nippte nur an seinem Kaffee, und wirkte, als ob ihm feierlich zumute war.
    Nachdem er ungewöhnlich lange geschwiegen hatte, räusperte er sich, sah seinen Aushilfsgesellen durchdringend an und sagte: »Jacques, wir haben nun einige Tage zusammengearbeitet. Ich bin zufrieden mit deiner Arbeit.«
    »Danke, Meister.«
    Dunkel lächelte: »Aus dir könnte sogar mal ein richtiger Bäcker werden, wenn du morgens nicht immer so müde wärst.«
    »Ich gewöhne mich daran.«
    »Ja, ja«, sagte Dunkel. »Der Winter ist eine schwierige Zeit. Im Sommer hat es unsereiner leichter. Es wird früh hell, die Vögel zwitschern …«
    »Als Koch in einem Restaurant arbeitet man von morgens bis in die Nacht hinein. Ich bin es gewohnt, so meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
    Dunkel nickte und widmete sich wieder seinem Leberwurstbrot. Nachdem er es aufgegessen und mit einem großen Schluck Zichorienkaffee heruntergespült hatte, sagte er: »Ja, ich weiß, du kannst arbeiten«, sagte Dunkel. »Aber kannst du auch schweigen?«
    »Schweigen?«
    Dunkel beugte sich nach vorn und senkte die Stimme: »Ein Geheimnis bewahren.«
    Pistoux war sich nicht sicher, ob er wirklich ein Geheimnis erfahren wollte. Wer ins Vertrauen gezogen wird, geht

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