Das giftige Herz
Verpflichtungen ein. Pistoux wollte von niemandem abhängig werden, er war auf der Durchreise, er gehörte hier nicht hin. Er brauchte Geld, dann würde er, ohne zu zögern, weiterreisen. Er wollte nicht, dass jemand versuchte, ihn hier festzuhalten, sei es mit Komplimenten, sei es mit Geheimnissen, die ihm erzählt wurden. Er fühlte sich unbehaglich.
»Was weißt du über Lebkuchen?«, fragte der Bäcker.
»Lebkuchen?«
»Lebkuchen sind eine Nürnberger Spezialität.« Friedrich Dunkel hob die Stimme und deklamierte feierlich: »Die rechten Nürnberger Lebküchlein, welche angenehm von Geschmack und eine rechte Magenstärkung, auch angenehm beim Trunke sein, haben noch niemals, wo man sich auch darum bemühte, anderwärts können nachgemacht werden.«
Pistoux sah ihn fragend an.
»Das hat ein bedeutender Mann gesagt, Johann Christof Wagenseil. Vor zweihundert Jahren schon.«
Pistoux nickte pflichtschuldig. Von einem Wagenseil hatte er noch nie gehört.
»Aber Lebkuchen gibt es schon viel länger«, fuhr Dunkel fort. Er deutet mit dem Daumen auf sich selbst: »Einer meiner Vorfahren war Lebzelter in Ulm, vor sechshundert Jahren.« Er nickte stolz. »Seit über sechshundert Jahren werden in unserer Familie Lebkuchenrezepte weitergegeben.«
Pistoux war jetzt doch interessiert. Seit sechshundert Jahren?
»Meines Wissens bin ich der Einzige, der die Familientradition noch hochhält. Lange Zeit waren die alten Rezepte verloren gegangen. Ich habe sie wieder gefunden, in einer Kiste auf dem Dachboden. Das war vor einigen Jahren. Da erst habe ich angefangen, Lebkuchen zu backen. Sie wurden besonders gut«, sagte der Bäcker stolz. Dann huschte ein Schatten über sein Gesicht: »Man hat es mir geneidet und wollte es mir verbieten. Aber ich konnte beweisen, dass in meiner Familie schon Lebkuchen gebacken wurden, als in Nürnberg noch kaum einer dieses Handwerk beherrschte. Schon im 15. Jahrhundert kam einer meiner Vorfahren aus Ulm nach Nürnberg. Er wurde Mitglied der Lebküchnerzunft. Ich habe ein Dokument als Beweis bei den Rezepten gefunden. Es ist nun gut versteckt.« Er senkte die Stimme. »Es gibt so viele Neider in dieser Stadt, gerade unter den Bäckern, denn man verdient nicht schlecht mit den Lebkuchen. Ich habe einen Händler, der meine Lebkuchen in alle Welt verkauft. Meine Lebkuchen werden sogar in Amerika gegessen!«
Pistoux nickte. Aber reich geworden bist du trotzdem nicht, Bäcker Dunkel, dachte er bei sich. Oder hast du deinen Reichtum etwa nur gut versteckt, aus Angst, man könne ihn dir noch mehr neiden als nur deine uralte Rezeptur?
Dunkel erhob sich mühsam. »Ich kann dir die Dokumente nicht zeigen«, sagte er verschwörerisch und lief zum Küchenschrank. »Sie sind ja gut versteckt. Ich weiß übrigens, dass man sie mir stehlen will.« Er zog eine Schublade auf und kramte darin herum. »Ich habe eine Abschrift gemacht.« Er zog eine zerfledderte Kladde hervor, drehte sich um und schlug sie auf. Einige lose Blätter fielen zu Boden. Dunkel ging ächzend und schwer atmend in die Knie und klaubte sie auf. Dann trat er an den Küchentisch und blieb davor stehen.
Mit einer plötzlichen Handbewegung und mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht hielt er Pistoux die aufgeschlagene Kladde hin.
»Da«, sagte er, »das wird mir so schnell niemand stehlen.«
Pistoux blickte neugierig auf die Seiten. Sie waren mit eigenartigen Ornamenten beschrieben.
»Was ist das?«, fragte er.
Dunkel legte das Buch sorgfältig auf den Tisch und rückte es so zurecht, dass es exakt parallel zur Tischkante lag. Dann beugte er sich darüber, indem er seine mächtigen Arme rechts und links von der Kladde auf den Tisch stemmte.
»Ich habe mir eine Geheimschrift ausgedacht«, sagte der Bäcker stolz.
Pistoux versuchte, in dem Durcheinander aus Schnörkeln ein System zu erkennen, aber es war unmöglich.
»Das soll eine Schrift sein?«
»Niemand kann sie lesen, nicht mal meine Frau.«
Dunkel beugte sich noch weiter nach vorn und flüsterte verschwörerisch: »Dieses kleine Buch ist ein Vermögen wert. Man hat mir viel Geld für die Rezepte geboten, aber ich habe mich geweigert, den Familienschatz zu verkaufen.«
Pistoux nickte.
»Es ist nicht nur eine Geheimschrift«, sagte der Bäcker verschmitzt, »ich hab sie außerdem auch noch in Spiegelschrift aufgeschrieben.«
Pistoux runzelte die Stirn.
»Aber ich kann es ganz einfach vorlesen. Pass auf.« Dunkel legte den Finger auf eine Stelle in der Kladde und las
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