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Das giftige Herz

Das giftige Herz

Titel: Das giftige Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Doyle
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mit verhaltener Stimme vor: »Nimm ein Pfund Zucker, ein halbes Seidlei oder Achtellein Honig, vier Lot Zimmet, eineinhalb Lot Muskatrimpf, zwei Lot Ingwer, ein Lot Cardamumlein, ein halb Quäntlein Pfeffer, ein Diethäuflein Mehl. Mach ein Lebkuchen fünf Lot schwer.« Er richtete sich auf und sah Pistoux stolz an: »Na?«
    »Ein Rezept«, stellte Pistoux fest.
    »Das älteste, das jemals aufgeschrieben wurde. Es ist dreihundert Jahre alt.«
    »Aha.«
    »Heute machen sie alle zu viel Mehl hinein. Es wird immer mehr Mehl genommen. Das verdirbt den Geschmack. Es schmeckt ja dann wie Brot. Und laben tut es auch nicht mehr. Nur noch die Elisenkuchen sind richtige Lebkuchen, aber sonst …« Der Bäcker machte eine abschätzige Handbewegung und verzog verächtlich das Gesicht.
    »Nur wenig Mehl?«, fragte Pistoux interessiert. »Aber wie hält der Teig dann zusammen?«
    Der Bäcker lächelte wissend.
    »Mit all dem Honig und Zucker muss er doch bei der Hitze im Ofen zerfließen«, sagte Pistoux.
    »Es ist ganz einfach. Warte nur einen Moment«, sagte Dunkel, richtete sich auf und ging durch die Tür nach hinten in die Backstube.
    Kurz darauf kam er zurück. In der Hand hielt er ein weißes Viereck. »Hier, bitte.« Er reichte es seinem Gesellen.
    Pistoux nahm das Stück in die Hand.
    »Das ist kein Papier«, erkannte der Franzose sofort.
    »Aber nein.«
    »Das ist natürlich ein … ein … wie sagt man denn auf Deutsch dazu?«
    »Eine Oblate.«
    »Oblate.« Pistoux nickte: »Darauf kann der Teig nicht zerfließen.«
    »Er klebt fest«, stimmte der Bäcker zu. »Außerdem sorgt die Oblate dafür, dass der Teig nur oben knusprig wird. Die Unterseite darf nicht porös werden, sonst trocknet der ganze Lebkuchen aus. Er muss ja drinnen schön saftig bleiben.«
    Pistoux nickte zustimmend. Er hatte das Lebkuchenprinzip verstanden. »Sehr nahrhaft«, sagte er.
    »Der Lebkuchen ist das Gesündeste, was es gibt«, sagte Dunkel.
    »Und das Sündhafteste«, ergänzte seine Frau, die plötzlich eintrat. »Wenn ihr noch weiter hier herumschwatzt, werdet ihr die Lebkuchen heute nicht mehr fertig bekommen.«
    Das war deutlich. Pistoux stand schuldbewusst auf.
    »Ich habe Jacques nur die Kladde gezeigt«, sagte der Bäcker. »Er muss ja schließlich wissen, um was es eigentlich geht.«
    Die Bäckersfrau zog die Augenbrauen hoch: »Hat er dir das alte Rezept vorgelesen? Ja, ja, das ist sein ganzer Schatz. Aber heutzutage backt man doch ein wenig anders. Ich sage immer, man muss mit der Zeit gehen. Und wenn die Leute zufrieden sind, kann man auch mal ein bisschen mehr Mehl untermischen.«
    Dunkel blickte seine Frau wütend an: »Alle anderen verderben ihre Lebkuchen mit Mehl. Und wir haben auch schon zu viel davon drin.«
    »Wir müssen auch leben, Friedrich. Die anderen Zutaten sind zu teuer.«
    »Unfug! Das ist Verrat! Das werde ich niemals zulassen. Die Rezepte meiner Familie sind mir heilig.«
    »Und mir ist meine Kasse heilig. Du stehst ja nicht im Laden und musst den Leuten erklären, wieso deine Lebkuchen teurer sind als die anderen.«
    »Aber sie sind auch viel besser!«
    »Wenn’s doch keiner merkt, Friedrich.«
    »Ein echter Kenner merkt das sofort!«
    »Wir haben nur wenige echte Kenner unter unseren Kunden.«
    »Dann kann ich gleich aufhören, Lebkuchen zu backen.«
    »Aber Friedrich, wir haben Bestellungen aufgenommen …«
    »Na siehst du, wir haben doch Kunden.«
    »Aber natürlich haben wir Kunden, wer hat denn behauptet …?«
    »Von uns erwartet man Qualität! Unbedingte Qualität!«
    Frau Dunkel zuckte resigniert mit den Schultern. Diese Debatte hatte sie wohl schon öfter verloren. »Geht an die Arbeit«, sagte sie müde. »Es muss doch alles rechtzeitig fertig werden.«
    Dunkels Zorn verschwand so schnell, wie er gekommen war: »Komm mit, Jacques«, sagte er zu Pistoux, der die ganze Zeit mit sichtlichem Unbehagen neben dem streitenden Ehepaar gestanden hatte. »Wir müssen die Schokoladenlebkuchen bis heute Abend fertig haben. Und es gibt auch sonst einiges zu tun.«
    Sie waren noch nicht durch die Tür zur Backstube verschwunden, da hörten sie hinter sich eine fremde Stimme: »Entschuldigen Sie …«
    Alle drei drehten sich erschrocken um.
    »… ich habe im Laden gewartet, niemand kam … ich hörte Stimmen …«
    Es war ein Herr in Gehrock und Zylinder. Er hielt einen Stock mit Silberknauf in der Hand und hatte Handschuhe an.
    »Wer sind Sie, was wollen Sie?«, fragte Dunkel unwirsch.
    Der vornehme Herr

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