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Das giftige Herz

Das giftige Herz

Titel: Das giftige Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Doyle
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besichtigen. Aber der Gedanke, womöglich mit einer Kerze in der Hand, durch knietiefes Wasser zu waten und flüchtenden Ratten hinterherzusehen, war ihm äußerst unangenehm gewesen.
     
    Es klopfte an der Zimmertür. Der Inspektor schreckte hoch und ärgerte sich. Er war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass er gar nicht mehr darauf geachtet hatte, was drüben im Fenster passiert war. Gerade zog sich das Mädchen das Nachthemd über den nackten Alabasterleib.
    Hinter Wanner ging die Tür auf. Er zuckte zusammen, zog hastig die Gardine vors Fenster und wirbelte herum. »Frau Esslinger, was zum Teufel …«
    »Aber Herr Wanner, ich rufe doch schon die ganze Zeit!«
    »Was ist denn los, in Gottes Namen?«
    Frau Esslinger rang die Hände, erschrocken über die unwirsche Art ihres Untermieters.
    »Ja, entschuldigen Sie, aber Sie hatten doch …«
    »Ich hatte was?«, fragte Wanner laut, um seine eigene Verwirrung zu kaschieren.
    Frau Esslinger holte tief Luft: »Sie hatten doch versprochen, mir beim Glasieren der Zimtsterne zu helfen.«
    Auch das noch, dachte Wanner.
    »Können Sie das denn nicht allein?«
    »Aber ich muss doch die Weihnachtsstollen fertig machen. Und ich weiß gar nicht, ob ich noch genug Orangeat im Haus habe.«
    »Was backen Sie auch so viel! Wer soll das denn alles essen?«
    »Aber die Verwandtschaft, Herr Wanner! Es muss doch jeder einen Stollen kriegen …«
    »… und Zimtsterne und Lebkuchen und zahllose verschiedene Sorten von Plätzchen.«
    »Ja, ich fülle alles in kleine Säckchen, die dann jeder bekommt.«
    »Sie übertreiben maßlos, Frau Esslinger.«
    »Sie haben gut reden, Herr Inspektor, Sie haben ja keine Verwandtschaft.«
    Da hatte sie Recht. Er hatte niemanden. Für ihn waren Weihnachten und schon die ganze Adventszeit vorher ein einziges Trauerspiel. Er seufzte. Es war einfach lächerlich, in der Küche zu stehen und wie ein kleiner Junge Plätzchen mit Zuckerguss zu bepinseln.
    »Sie müssen auch noch die Ausstecherle bunt anmalen«, sagte Frau Esslinger.
    Plötzlich ging sie an ihm vorbei zum Fenster und zupfte die Gardine zurecht.
    »Was machen Sie denn immer hier am Fenster, Herr Wanner?«, sagte sie vorwurfsvoll.
    »Kommen Sie«, sagte der Inspektor. »Wir gehen in die Küche.«

12 ENGELSTRÄNEN
    Der hart gefrorene Schnee knirschte unter Pistoux’ Stiefeln. Es war ein klarer Tag, die Luft eiskalt, der Himmel strahlte hellblau. Er zog den Handkarren über die rutschigen Wege. Hier und da türmten sich kleine Schneeberge an den Häuserwänden. Aber auch die freigeräumten Pfade in den Gassen waren tückisch, weil man auf dem spiegelglatten Pflaster sehr leicht ausrutschen konnte. Am frühen Morgen und bei dieser Eiseskälte waren nur wenige Menschen unterwegs, alle in langen Mänteln, mit Schals, Mützen oder warmen Hüten und Handschuhen. Er hatte sich einen Schal und Handschuhe von Frau Dunkel geben lassen. Ihr Mann brauchte sie nicht, er saß ja im Gefängnis, weil man ihm vorwarf, einen heimtückischen Giftmord an einem der verdientesten Bürger der Stadt begangen zu haben.
    Die Nachricht von dem angeblichen, schändlichen Vergehen des Bäckers hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Selbst treue Kunden mieden es jetzt, in der Bäckerei Dunkel einzukaufen. Die Bäckersfrau war kurz davor, zu verzweifeln. Sie hatte ihren französischen Aushilfsgesellen angefleht, bei ihr zu bleiben, sich nicht von den ausgestreuten Gerüchten und der üblen Nachrede beeinflussen zu lassen. Manche Stammkunden des Bäckers in der Wunderburggasse stellten erleichtert fest, dass sie noch am Leben waren, und teilten diese Erkenntnis bei jeder Gelegenheit allen anderen mit. »Wer jetzt noch beim Bäcker Dunkel kauft, ist eindeutig lebensmüde«, hieß es. Und jeden, der aus Unkenntnis, oder weil er doch nicht an die schaurigen Behauptungen glaubte, noch dort einkaufte, behandelte man wie einen Todeskandidaten.
    Es gab auch vereinzelt andere Stimmen, die behaupteten, vor der Ankunft des Franzosen sei der Bäcker ein wohlanständiger Bürger gewesen. Also musste dieser mysteriöse neue Geselle an dem Unglück schuld sein, das über die Familie Dunkel gekommen war. Manche tuschelten auch hinter vorgehaltener Hand über einen Komplott von Frau Dunkel und dem Franzosen. Man wusste ja, wie die Franzosen mit Frauen umgehen konnten, deutschen zumal. Im Süßholzraspeln waren sie ganz groß, das hatte man ja während der napoleonischen Besatzung beobachten können. Warum sollte dieser

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