Das giftige Herz
laufen«, jammerte der Bengel.
»Heute jedenfalls nicht mehr«, stellte Pistoux fest.
»Ich hab Hunger«, sagte der Junge.
»Ha!«, hörte Pistoux die Stimme der Bäckersfrau.
»Ich hab Durst.«
»Frau Dunkel, holen Sie dem Kleinen doch mal ein Glas Milch und einen Lebkuchen.«
»Was soll ich?« Die Angesprochene stemmte empört die Hände in die Hüften.
»Er wird uns bestimmt Rede und Antwort stehen, wenn er nicht mehr hungrig ist.«
»Das ist doch …«
»Bitte, Frau Dunkel. Wir möchten doch wissen, warum er hier herumschleicht, nicht wahr?«
»Warum, warum. Weil er ein Dieb ist!«
»Wenn Sie ihm nichts geben, wird er erst recht zum Dieb, weil er Hunger hat.«
»Herr Pistoux, es gefällt mir gar nicht, wie Sie mit mir reden.«
»Vielleicht hilft er uns ja, etwas Licht in den Fall zu bringen, wegen dem Ihr Mann in Schwierigkeiten gekommen ist.«
»Dieser Bengel?«
»Es ist doch auch ein kleiner Junge zu Tode gekommen. Durch Vergiftung, heißt es.«
»Ja und?«
Pistoux wandte sich an den Jungen: »Hast du ihn gekannt, den Jungen, den sie im Stadtgraben gefunden haben?«
Der Junge nickte.
»Weißt du, was mit ihm passiert ist?«
»Ich will Lebkuchen.«
»Frau Dunkel, bringen Sie ihm doch einen Lebkuchenmann oder so etwas.«
Die Bäckersfrau blickte noch immer widerspenstig drein.
»Ich will ein Pferd.«
»Was?«
»Ich will ein Lebkuchenpferd haben.«
»Frau Dunkel, seien Sie doch so gut und bringen Sie uns ein Glas Milch und ein Lebkuchenpferd.«
Sie zögerte, doch dann ging sie in den Laden und kam gleich darauf wieder mit einem Lebkuchenpferd in der Hand zurück, das sie neben den Jungen auf den Tisch legte. Dann goss sie aus einem großen Krug Milch in ein Glas und stellte es dazu.
Der Junge trank die Milch in einem Zug aus und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. Dann begann er hastig den Lebkuchen aufzuessen. Als er fertig war, sah er Pistoux erwartungsvoll an.
»Bringen Sie ihm nochmal das Gleiche, bitte.«
»Der frisst uns noch die Haare vom Kopf.«
»Aber Frau Dunkel.«
Sie brachte nochmal das Gleiche.
Nachdem er das auch verzehrt hatte, schien der Junge weniger ängstlich zu sein.
»Wie viele seid ihr denn?«, fragte Pistoux.
Der Junge sah ihn ausdruckslos an.
»Na sag schon, du bist doch nicht allein da draußen gewesen.«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Wie viele seid ihr?«
Der Junge hob die rechte Hand und zählte mit der anderen beim Daumen angefangen ab, bis er alle Finger durchhatte.
»Fünf?«, fragte Pistoux.
Der Junge knickte den kleinen Finger wieder ein.
»Vier?«
Der Junge nickte.
»Wo wohnt ihr?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Eure Eltern …«
Der Junge schüttelte heftiger den Kopf.
»Warum kommt ihr immer hierher?«
»Wir haben Hunger. Außerdem ist das Schloss kaputt.«
»Kaputt?«, empörte sich Frau Dunkel im Hintergrund. »Das ist doch …«
»Man kann’s nicht gleich sehen«, sagte der Junge, »aber es ist kaputt.«
»Habt ihr die Schachtel mit den Herzen hergebracht?«, fragte Pistoux.
»Hergebracht?«
»Ja.«
Der Junge blickte ihn verwirrt an. »Hierher?«
»Ja. Ihr seid eingebrochen und habt eine Schachtel mit Lebkuchenherzen dort hinten auf ein Regal in der Vorratskammer gelegt.«
Der Junge runzelte die Stirn, als würde er angestrengt nachdenken. Pistoux wartete geduldig ab. Der Junge sah kurz zu Boden, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein.«
»Nein? Sag die Wahrheit!«
»Wir haben die Schachtel mit den Lebkuchenherzen doch hier weggenommen!«
»Weggenommen?«, fragte Pistoux.
»Diebe!«, rief Frau Dunkel.
»Ja, klar, und alles aufgegessen.«
»Und?«
Der Junge grinste: »Sie haben gut geschmeckt.«
»Frecher Bengel«, sagte Frau Dunkel.
»Und dann ist einer von euch gestorben«, sagte Pistoux.
»Ja, aber erst ein paar Tage später.«
Pistoux war ratlos. So langsam konnte das Gift doch wohl nicht gewirkt haben. »Wie hieß denn der Junge, der gestorben ist?«
»Weiß ich nicht.«
»Hat er dir nie seinen Namen gesagt?«
»Nein.«
»Wie habt ihr ihn denn genannt?«
Der Junge zögerte, dann sagte er: »Staub.«
»Ihr habt ihn Staub genannt?«
»Ja, genau so.«
Pistoux schüttelte verwundert den Kopf. Dann trat er ein wenig vom Tisch zurück und sagte: »Du kannst jetzt nicht laufen. Was machen wir da mit dir?«
»Ich hab noch Hunger«, sagte der Junge.
11 DER HENKER
Sie zog sich wieder aus, vor seinen Augen. Die Sache war jetzt noch viel verruchter, denn sie hatten sich inzwischen persönlich
Weitere Kostenlose Bücher