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Das giftige Herz

Das giftige Herz

Titel: Das giftige Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Doyle
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kennen gelernt. Inspektor Wanner stand am Fenster seines Zimmers, hatte die Gardine beiseite gezogen und blickte in das erleuchtete Fenster gegenüber. Das ist schon ein raffiniertes Luder, dachte er mit Wohlbehagen, sie bleibt nicht einfach vor dem Fenster stehen und entledigt sich ihrer Kleider. Sie macht es spannend, geht mal nach rechts, mal nach links, sodass sie verschwindet oder manchmal teilweise verdeckt zu sehen ist. Diese Inszenierung schürte in ihm beständig das Verlangen, neue Details ihres Körpers zu entdecken.
    Im ganzen Haus roch es nach Zimt. Frau Esslinger war mal wieder am Backen. Ihre zahllosen Enkel liebten nichts so sehr wie Zimtsterne. Auch Ausstecherle waren bei den Kindern sehr beliebt. Deshalb hatte Wanner, als er am Nachmittag nach Hause gekommen war, erst einmal beim Ausstechen von Monden, Sternen, Weihnachtsbäumen, Kerzen, Märchenfiguren, Postkutschen und sogar einer Eisenbahn helfen müssen. Während der stumpfsinnigen Arbeit hatte Frau Esslinger von ihren Enkeln erzählt. Wanner hatte kaum hingehört. Zu sehr war er mit seinem Fall beschäftigt, der ihm immer rätselhafter vorkam. Der verhaftete Bäckermeister Dunkel schwieg, obwohl er Wanner und dem Oberrat mehrmals vorgeführt worden war. Warum sollte der Mann ein Interesse daran haben, einen Ratsherrn zu vergiften, der ihm seit Jahren seine Lebkuchen abkaufte? Und was hatte der Ratsherr mit dem ermordeten Jungen zu tun? Wie konnte es angehen, dass beide Personen von demselben Lebkuchen abgebissen hatten? »Ein ungeheuerlicher Gedanke!«, hatte der Oberrat erbost ausgerufen und Wanner damit deutlich zu verstehen gegeben, dass er keinen Zusammenhang zwischen den beiden Ermordeten herstellen sollte. Wanners Gedanken schweiften ab. Er dachte an seinen Besuch beim Gewürzhändler Wetzel auf dem Henkersteg. Er war ganz allein kurz nach Mittag durch den Schnee dorthin gestapft und hatte den schmiedeeisernen Türknopf betätigt. Nach einiger Zeit hatte er ein Schlurfen gehört, und dann war die Tür geöffnet worden. Auch am helllichten Tag trug der Gewürzhändler einen Hausmantel, aber diesmal keine Zipfelmütze, sondern einen Fes auf dem Kopf. Trotzdem sah er aus, als sei er gerade aufgestanden.
     
    »Ah, Herr Inspektor, kommen Sie herein. Entschuldigen Sie meinen Aufzug, ich bin krank. Eine Erkältung. Es ist so zugig hier. Kommen Sie rein.«
    Wanner trat wieder in den mit den exotischen Figuren und Schnitzereien voll gestellten Vorraum und wurde von Wetzel in das zweite Zimmer geführt.
    Wetzel deutete auf einen Sessel neben dem Ofen. Es war viel zu heiß hier drin. Wanner zog seinen Mantel aus und setzte sich. Wetzel nahm auf der Chaiselongue Platz, halb liegend, halb sitzend, und zog sich eine Decke über die Beine.
    »Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs, Herr Inspektor?«
    Wanner bemerkte eine seltsame Figur in der Vitrine, eine tanzende Gestalt mit sechs Armen und sechs Beinen, von der man nicht sagen konnte, ob sie einen Mann oder eine Frau darstellen sollte.
    »Warum sind Sie gekommen, Herr Inspektor?«, fragte Wetzel nochmals und legte theatralisch den Handrücken auf die Stirn, als wolle er damit demonstrieren, dass er Fieber hatte.
    Wanner ließ seinen Blick über die chinesischen Wandbehänge schweifen. Auf einem kleinen Tisch neben der Chaiselongue bemerkte er eine kleine Vase mit durchlöchertem Deckel, aus der feiner Rauch quoll. Es roch nach unheiligem Weihrauch. »Wohnen Sie schon lange auf dem Henkersteg?«
    »Mein ganzes Leben habe ich hier verbracht.«
    »Aber Sie reisen oft?«
    »Früher bin ich sehr viel unterwegs gewesen. Persien, Indien, China … Aber heute fühle ich mich zu alt dafür.«
    »Als Gewürzhändler, müssen Sie da nicht immer wieder im Ausland Ware einkaufen?«
    »Ich habe Beziehungen geknüpft. Man liefert mir meine Ware regelmäßig.«
    »Und Sie beliefern andere Geschäfte mit Gewürzen?«
    »In ganz Deutschland«, sagte Wetzel und richtete sich halb auf, um nach der Räuchervase zu sehen: »Stört sie der Geruch, Herr Inspektor?«
    »Warum leben Sie hier auf der Brücke? Das scheint mir doch ein eher ungewöhnlicher Ort für einen wohlhabenden Mann zu sein.«
    »Wohlhabend?« Wetzel lachte spöttisch. »Das sind andere.«
    »Sind Sie so arm, dass Sie sich keine Wohnung in einem bürgerlichen Haus leisten können?«
    »Ich bin nicht sehr beliebt, Herr Inspektor.«
    »Wieso das?«
    »Missgunst«, sagte der Händler und setzte sich jetzt ganz aufrecht hin, abgestützt von zahlreichen

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