Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das giftige Herz

Das giftige Herz

Titel: Das giftige Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Doyle
Vom Netzwerk:
wieder zu. Frau Dunkel öffnete den Mund, die Stimme versagte ihr, dann schrie sie zutiefst empört und verletzt mit schriller, sich überschlagender Stimme: »Was machen Sie da, Pistoux? Was machen Sie mit meinem Lebkuchenhaus!«
    »Madame, es ist …«
    »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen, Sie Franzose? Oder wollten Sie sich etwa mit dem Lebkuchenhaus davonstehlen?« Die Irrwitzigkeit ihrer Behauptung war ihr bewusst, weshalb sich ihr Gesicht nicht nur vor Wut, sondern angesichts dieser seltsamen Situation auch vor Unglaube verzerrte.
    »Madame …«
    »Wissen Sie überhaupt, wie viele Tage Arbeit in diesem Häuschen stecken!«
    »Aber ja …«
    »Sind Sie verrückt geworden, Sie undankbarer Geselle? Holen Sie das sofort wieder herein!«
    Pistoux blickte verzweifelt nach draußen. Diese Situation war wirklich absurd. Wie sollte er erklären, um was es ihm hier ging?
    Aber es war ohnehin zu spät. Plötzlich kamen die Kinder aus ihrem Versteck gerannt. Sie waren zu dritt. Der Größte, der mit der Schirmmütze, schnappte sich das Lebkuchenhaus, der Mittlere hob den Karton auf, und der Kleinste schob den Handwagen auf den Platz. Und noch ehe die Erwachsenen im Bäckerladen reagieren konnten, waren sie wieder verschwunden.
    Einen Moment lang sahen sich Pistoux und Frau Dunkel verblüfft an. Dann riss die Bäckersfrau die Tür auf und stürzte nach draußen. Pistoux folgte ihr. Er hatte den Kindern kein Geschenk machen wollen, er wollte mit ihnen reden, und nun waren sie schon wieder fort.
    Frau Dunkel stand mitten auf der Gasse, blickte nervös um sich und starrte dann auf den Handwagen.
    »Was soll das?«, murmelte sie.
    Pistoux trat neben sie: »Frau Dunkel, diese Kinder …«
    »Schweigen Sie! Sie haben mich bestohlen. Sie machen mit diesem Lumpenpack gemeinsame Sache. Sie sind nichts weiter als ein gemeiner Dieb, Sie … Sie … Gehen Sie mir aus den Augen! Ich verbiete Ihnen, jemals wieder einen Fuß in meine Bäckerei zu setzen!«
    Pistoux war wie vom Donner gerührt. »Aber, ich … Sie können doch nicht …«
    Frau Dunkel warf trotzig den Kopf zurück: »Ich kann sehr wohl! Gehen Sie!«
    Sie drehte sich um und stapfte durch den Schnee zur Bäckerei, trat ein, warf die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss um.
    Pistoux blieb stehen, wo er war, und schüttelte ungläubig den Kopf. Dann wurde ihm klar, in was für einer Situation er sich befand. Er hatte soeben seine Anstellung verloren, ohne für seine geleistete Arbeit bezahlt worden zu sein. Sollte er jetzt zurückgehen? Bitten? Betteln? Seinen Verdienst einklagen? Sie würde ihm bestimmt nicht öffnen. Nicht heute. Vielleicht morgen, wenn der Ärger verflogen war. Er könnte versuchen, einzudringen, darauf pochen, dass er seine wenigen privaten Dinge mitnehmen durfte. Er schüttelte entmutigt den Kopf. In was für eine absurde Situation war er da hineingeraten! Mittellos, ohne Unterkunft mitten im Winter auf einer verschneiten und vereisten Gasse in Nürnberg. Wenigstens war er einigermaßen warm angezogen.
    Jetzt begann es zu allem Überfluss auch noch zu schneien. Dicke, feuchte Schneeflocken taumelten träge vom Himmel herab. Schnell wurden es mehr. Pistoux starrte vor sich hin und stocherte mit den Stiefelspitzen im Schnee herum. Eine tiefe Mutlosigkeit überfiel ihn. Was wollte er eigentlich hier in dieser alten Stadt? Sollte er nicht besser so schnell wie möglich verschwinden, den Weg nach Norden antreten, wenn es sein musste zu Fuß und ohne Geld? Man erwartete ihn zwar erst zum Jahresanfang in Hamburg, aber dort würde es vielleicht einfacher sein, die Zeit bis zu seiner Anstellung im Hotel zu überstehen.
    »Diese Stadt ist verhext«, murmelte er vor sich hin. »Alt, modrig und verhext.«
    Hinter sich hörte er leise Schritte auf dem verharschten Schnee. Er wandte sich um. Der kleinste der drei Bengel stand vor ihm und blickt ihn aus großen, leuchtend blauen Augen freundlich an. Nein, es war gar kein Junge. Unter der Wollmütze quollen blonde Locken hervor. Es war ein Mädchen von vielleicht acht Jahren. Der löchrige Mantel, den es trug, reichte ihm fast bis zu den zerschlissenen Schuhen.
    »Hallo«, sagte sie. »Ich bin Nichts.«
    Pistoux blickte sie verwirrt an.
    »Keiner sagt, du sollst mit uns mitkommen.« Sie deutete auf den Handwagen. »Den kannst du ruhig mitnehmen.«
    Sie drehte sich um und stapfte mit kleinen Schritten zur Straßenecke.
    Pistoux drehte sich nochmal zur Bäckerei um. Frau Dunkel war nirgends

Weitere Kostenlose Bücher