Das gläserne Paradies
vergangen. Da hatte sie â mit einer gestörten Telefonverbindung und einem häÃlichen Pfeifen im Ohr â nicht nur erfahren müssen, daà ihre jüngste Schwester in Genua gestorben war, sondern auch, daà sie ein Kind hinterlassen hatte und daà Wanda mit diesem Kind auf dem Weg nach Lauscha war. »Nach Hause« hatte Wanda es genannt. Wie es schien, trug sich Wanda allen Ernstes mit dem Gedanken, hier in diesem Nest bleiben zu wollen. Als Ehefrau eines Glasbläsers â genau die Situation, aus der Ruth einst geflüchtet war. Welch eine Ironie!
Ruth schnaubte, was ihr sofort einen schrägen Seitenblick von Wanda einbrachte. Wanda, die unaufhörlich plapperte, sich aber mit gelegentlichen »Ahas« und »Ohs« von Ruth zufriedengeben muÃte. Wenigstens war ihre Tochter genauso aufgeregt wie sie selbst, stellte Ruth mit Genugtuung fest.
Noch am Tag von Wandas Anruf hatte sie begonnen, ihre Reise nach Thüringen zu planen. Es war selbstverständlich, daà sie ihrer Tochter beistehen würde. Aber wie sah das aus â beistehen? Wie sollte sie reagieren? Konnte, durfte sie Wanda ihren Segen für all ihre Pläne geben? Oder wäre es nicht viel besser, die Tochter zur Rückkehr nach New York zu bewegen? Wenn es sein muÃte, mit Gewalt? Noch war Wanda nicht volljährig â¦
Tausendmal hatte sie diese Fragen mit Steven besprochen. Obwohl sie seinem Urteil in fast allen Dingen traute, war er ihr dieses Mal wenig hilfreich gewesen.
»Du muÃt dir die ganze Sache erst einmal anschauen â aus der Ferne sind solche Entscheidungen nicht zu treffen«, hatte er gesagt. Das gelte sowohl für diesen Richard als auch für die Lebensverhältnisse, in die Wanda durch eine Heirat mit ihm geraten würde.
Ruth schnaubte erneut. Lebensverhältnisse â wie die aussahen, das konnte sie sich nur allzu gut vorstellen!
Ach, wenn Steven nur nicht ausgerechnet jetzt in der Firma unabkömmlich gewesen wäre! Was hätte sie dafür gegeben, ihn an ihrer Seite zu haben! Und Steven hätte es auch gutgetan, seine Tochter wiederzusehen.
Seine Tochter ⦠Ruth weigerte sich, Wanda anders zu nennen. Steven hatte sie aufwachsen sehen. An seiner Hand hatte sie die ersten Schritte getan. Mit seiner Hilfe hatte sie tanzen gelernt, lange bevor sie den ersten Unterricht bekommen hatte.
Als Wanda im vergangenen Sommer durch eine unachtsame Bemerkung von Marie erfahren hatte, daà Steven nicht ihr leiblicher Vater war, hatte sie sich nicht nur von Ruth, sondern auch von ihm abgewandt. Er hatte seinen Schmerz und seine Enttäuschung zu verbergen gesucht, doch Ruth kannte ihren Mann gut genug, um zu spüren, was in ihm vorging.
Wie konntet ihr mir die Wahrheit so lange vorenthalten? hatte Wanda immer wieder gefragt. Es war Ruth nicht gelungen, ihr klar zu machen, daà Steven und sie nur ihr Bestes gewollt hatten. Thomas Heimer, die kurze Ehe mit ihm, seine Gewalttätigkeit â all das waren für Ruth düstere Schatten der Vergangenheit. Und da man seinen Schatten nicht sieht, wenn man sich nicht umdreht, hatte Ruth sich einfach nicht mehr umgedreht. Nicht nach Lauscha und nicht nach Thomas Heimer. Natürlich hatte sie ihre Schwestern vermiÃt! Aber das war der Preis gewesen. DerPreis für ihre Freiheit, für Steven, ihre groÃe Liebe, für ein Leben in New York mit all seinen Bequemlichkeiten und Möglichkeiten.
Und all das wollte Wanda nun aufgeben. Dafür, daà sich die Geschichte wiederholte. Ihre Tochter und ein Glasbläser â Ruth hätte heulen können!
»Geht es dir gut, Mutter? Sollen wir einen Moment verschnaufen?« fragte Wanda.
»Meine Schuhe bringen mich um.« Sich mit einer Hand an Wanda festhaltend, massierte sich Ruth erst den Knöchel ihres linken, dann den des rechten FuÃes.
Achtzehn Jahre waren vergangen, seit sie Lauscha verlassen hatte. Achtzehn Jahre! Und die Gehsteige waren noch genauso holprig und voller Schlaglöcher wie eh und je. MiÃmutig schaute sie an Wanda hinab, die in ihren strapazierfähigen Halbschuhen jedem Stolperstein gewachsen zu sein schien.
Ihre Tochter â¦
Was war nur aus dem eleganten jungen Mädchen geworden, das sie im letzten Herbst verabschiedet hatte? Ihre einstmals schicke und â wie Ruth damals fand â skandalöse Kurzhaarfrisur war zu einer schulterlangen, strähnigen Mähne
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