Das gläserne Paradies
wurde Wietze genannt, das in der Lüneburger Heide lag. Ãber zweitausend Bohrtürmeragten dort in den Himmel, mit denen achtzig Prozent der deutschen Erdölproduktion gefördert wurden.
Bestimmt ein prächtiger Anblick! Und garantiert würde dieser Ertrag in den nächsten Jahren noch steigen â schlieÃlich gab es immer mehr Maschinen, die immer mehr Erdöl benötigten.
Beste Anlagemöglichkeiten also. Langfristige, wohlgemerkt.
Nein, Wietze konnte er vergessen. Genauso, wie er die Jutespinnerei und -Weberei Bremen vergessen konnte. Obwohl ⦠Diese galt es in den nächsten Monaten im Auge zu behalten â falls er jemals wieder mit Aktien zu tun haben würde. David hatte ein ausführliches Firmenporträt gelesen, in dem erwähnt worden war, daà die Firmengründer schon wieder eine unglaublich hohe Summe in sogenannte »Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen« investiert hatten. Worunter man wahrscheinlich Wohnungen für Arbeiter, Kindertagesstätten und dergleichen verstand.
Die Bilanz einer Firma, die sich solch einen Luxus leisten konnte, war in Davids Augen nicht nur solide, sondern brillant.
Gedankenverloren zog David das Firmenporträt der Jutespinnerei erneut aus dem Zeitungsstapel heraus.
Die Firma lag im Bremer Freihafen. Der Rohstoff Jute wurde direkt aus Indien zu billigen Preisen importiert. Die Arbeiter waren willig, keine Gefahr von Streiks wie andernorts.
Was für eine Ironie! Die Bremer Jutearbeiter stammten zum gröÃten Teil aus Thüringen, genauer gesagt aus dem thüringischen Eichsfeld, das einstmals ein traditionelles Flachsanbaugebiet mit dem dazugehörigen verarbeitenden Handwerk gewesen war. Als dort nach dem Vorbild Englands immer mehr Maschinen die Arbeit vonMenschen übernommen hatten, waren die Menschen abgewandert, viele von ihnen nach Bremen.
Heute nannte man das Eichsfeld »PreuÃens Armenhaus«, wohingegen Bremen florierte wie noch nie â¦
David kniff die Augen zusammen. Wäre es nicht ausgleichende Gerechtigkeit, wenn Karl der Schweizer Flein und andere Thüringer vom Bremer Reichtum profitieren könnten?
Ausgleichende Gerechtigkeit? Du lieber Himmel, auf welchen Irrwegen wanderten seine Gedanken inzwischen!
Verärgert setzte sich David wieder an seinen Schreibtisch. Vielleicht würden ihm hier, an seinem ernsthaften Arbeitsplatz, ernsthafte Gedanken kommen. Und keine Spinnereien, die mit Lüneburger Bohrtürmen, indischer Jute oder neuseeländischem Obst zu tun hatten.
Doch der heiÃersehnte Geistesblitz wollte sich auch am Schreibtisch nicht einstellen. Es hätte nicht viel gefehlt und David wäre ein paar Türen weitergegangen und hätte Siegbert Breuer um Rat gebeten â so verzweifelt war er inzwischen. Da hatte er nun die Chance seines Lebens und war dabei, sie zu vertun. Und nicht nur seine! SchlieÃlich ging es um das Geld der Glasbläser, es ging um die Existenz vieler Familien â da konnte er sich ein Versagen einfach nicht erlauben!
An die Amerikanerin durfte er erst gar nicht denken. Das hoffnungsvolle â und vertrauensvolle â Funkeln in ihren Augen, wenn sie ihn ansah ⦠Verflixt noch mal, war es zuviel verlangt, eine Frau wie sie nicht enttäuschen zu wollen?
Ja, auch darum ging es, gestand sich David zähneknirschend ein. Es ging nicht nur um seine Karriere. Es ging auch um Wanda Miles. Darum, was sie von ihm hielt und dachte.
Wenn wenigstens ein Krieg in Aussicht wäre â¦
Als sich David bei diesem Gedanken ertappte, erschrak er. Gleichzeitig versuchte er seine Denkweise vor sich selbst zu rechtfertigen. Als im letzten Jahr dem Luftschiff LZ 5 die Fahrt vom Bodensee nach München und weiter bis nach Norddeutschland gelungen war, hatte jeder mit einem Ansteigen der Aktien der »Deutschen Luftschiff-Aktien-Gesellschaft« gerechnet. Doch anscheinend hatten die Anleger noch immer die vielen Unglücksfälle aus den vergangenen Jahren im Hinterkopf. David war davon überzeugt, daà diese schnell vergessen wären, wenn sich das Kriegsministerium endlich für die Luftschiffe zum Zwecke der Fernaufklärung interessiert hätte.
Ein dicker Auftrag vom Kriegsministerium. Und das in den nächsten Wochen.
Und zuvor ein Spatz, der ihm genau diese Nachricht ins Ohr zwitschern würde.
Das wäre das Wunder, das er genau jetzt brauchte!
Er blickte auf die Uhr. Schon nach
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