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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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floh.
    Anschar warf das Tuch beiseite und folgte ihr. Ihm war danach, sie für sein ruppiges Verhalten um Verzeihung zu bitten. Aber sie war schon fort, und sein Ansinnen kam ihm plötzlich seltsam vor. Genügte es nicht, dass er für Parrad Mitleid empfand? Er holte sich seinen wie üblich randvoll gefüllten Napf ab, schlang ein paar Fleischbrocken hinunter und schlug den Weg zur Krankenhütte ein. Schnell warf er einen Blick über das Wandgeflecht, das auch hier nur bis zur Brust reichte. Hier und da hörte er rasselnden Atem oder leises Stöhnen. Hinein kam man mühelos, eine Tür gab es nicht. Nur ein Wächter streifte in der Nähe herum und ließ sich erklären, was er hier zu suchen hatte.
    »Ich will Parrad etwas Fleisch geben.«
    »Von mir aus. Er liegt ganz hinten in der Ecke.«
    Mit dem Napf am Bauch schlich sich Anschar durch die Hütte. Es roch nach Erbrochenem und Schweiß, und die Schlafmatten knisterten, wenn sich die geplagten Körper, von denen er vier zählte, auf die andere Seite wälzten. Einer litt unter einem gebrochenen Kiefer; er konnte sich gut daran erinnern, wie der Kopf des Mannes von seinem Leinengefährten gegen die Kante des Beckens geschlagen worden war. Er ging in die Knie, als er die hinterste Ecke erreichte, wo nur eine Matte lag.
    »Parrad?«
    Der Wüstenmann kauerte an der Wand. Für jemanden, der sich unwohl fühlte, wirkte er erstaunlich wachsam. Seine
schwarzen Augen funkelten. »Anschar!«, zischte er. »Was tust du hier?«
    »Dir etwas zu essen bringen. Du hast dich erholt, wie es scheint.«
    »Möge der Herr des Windes es dir vergelten.« Parrad riss ihm den Napf aus der Hand, doch statt die Fleischbrocken sofort zu essen, schüttelte er sie auf ein Tuch. Sein eigener Napf stand darauf, daneben lagen ein paar Brotfladen. Anschar schwante bei diesem Anblick nichts Gutes.
    »Ich wollte gerade gehen«, flüsterte Parrad. »Es ist Schicksal, mein Freund, dass du jetzt gekommen bist, und das allein. Das Glück, frei herumzulaufen, wirst du nicht lange haben. Schließ dich mir an.«
    »Bist du irr?«, zischte Anschar. »Wieso kommst du jetzt auf so eine Idee?«
    »Weil ich zum ersten Mal nirgends angebunden bin. So wie du.«
    »Ihr Götter! Hast du deine Schwäche etwa nur gespielt? Damit wir getrennt werden?«
    Parrad gab einen beschwichtigenden Laut von sich. »Sei leise. Nein, mir ging es wirklich so schlecht. Ohne dich wäre ich gestorben, das ist so sicher, wie ich jetzt noch am Leben bin. Und dafür sei dir mein Dank auf ewig gewiss. Später aber, als die Aufseher kamen und uns losschnitten, habe ich meine Ohnmacht nur vorgetäuscht. Ich wusste, wenn ich es nicht tue, schicken sie uns gemeinsam in die Schlafhütte. Verstehst du?«
    »Hm«, brummte Anschar. »Und was nützt dir das? Die Hütte hier ist bewacht.«
    »Aber nachlässig. Wer achtet schon auf Kranke? Manchmal werden sie nicht einmal angebunden. Das war meine letzte Hürde, und ich hatte Glück, auch mich ließ man einfach so liegen. Ich sah wohl doch zum Sterben elend aus.« Der
Wüstenmann knüpfte das Tuch zusammen. »Seit ich hier bin, ist noch nie ein Sklave auf die Idee gekommen, sich krank zu stellen, um zu flüchten. Das kommt mir jetzt zugute.«
    »Es ist ja auch Unsinn. Du kommst nicht weit. Wo willst du überhaupt hin?«
    »Zur Klippe. Hinunter in die Wüste. Nach Hause.«
    »Ach, und dahin soll ich mit? Ich müsste ja verrückt sein.«
    »Ich würde dafür sorgen, dass meine Sippe dich friedlich empfängt.«
    »Danke, so einen Versuch habe ich schon hinter mir. Was soll das überhaupt? Du hast selbst gesagt, dass es unmöglich ist, dort hinunterzukommen. Und selbst wenn, läufst du den Sklavenfängern in die Arme.«
    »Ja, das habe ich gesagt. Trotzdem, es ist zu schaffen.«
    »Warte!« Anschar stemmte sich hoch, denn Parrad war aufgestanden und hatte das Kinn auf die Kante des Wandgeflechtes gelegt. Wollte er etwa verschwinden, noch bevor es richtig dunkel war? »Du wirst sterben.«
    »Ach was. Sei still.« Parrad legte den Kopf schief und lauschte. Das Rasseln von Insekten war zu hören, dazu aus den Hütten gedämpfte Gespräche, Streitereien und hier und da Schritte, irgendwo. Er war wie erstarrt, doch plötzlich kam Bewegung in seinen drahtigen Körper; flink kletterte er über die Wand, die sich gefährlich unter seinem Gewicht wölbte, und sprang an der anderen Seite hinab.
    »Parrad!«
    Zwei Herzschläge später war Anschar ebenfalls auf der anderen Seite der Wand. Parrad kauerte geduckt in

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