Das gläserne Tor
greifbar nah. Aber was, wenn sie zwar noch hier, aber derzeit außer Haus war? Wieder beschleunigte er seine Schritte; er achtete nicht auf die Menschen, nicht auf die Palastwächter, die ihn nicht aufhielten. Nicht auf die Hofdamen, die ihm zulächelten, nicht auf die Sklaven, die zur Seite sprangen. Die Treppenschächte kamen ihm endlos vor, aber endlich hatte er den Korridor erreicht, an der ihre Gemächer lagen.
Sie waren verschlossen.
Anschar berührte die Tür. Natürlich, Grazia hatte es ja so gewollt, das hatte er ganz vergessen. Er drückte dagegen, doch sie ließ sich nicht öffnen. Als er die Faust hob, schwang sie zurück.
»Buyudrar? Was tust du hier?«
»Anschar! Komm herein.« Der Leibwächter machte ihm Platz und verschloss die Tür hinter ihm. »Eigentlich sollte ich dich fragen, was du hier tust. Du gehörst nicht mehr hierher.«
Anschar ging ins Innere, drehte sich um die Achse, um sich umzusehen, und starrte Buyudrar an. »Für heute schon. Willst du meine Frage nicht beantworten?«
»Ich bin hier, um auf Grazia aufzupassen. Der Meya will
nicht, dass sie die Wohnung verlässt. Aber das ist schon mehr, als ich darüber sagen dürfte. Immerhin …«, er unterbrach sich und senkte den Blick. »Immerhin dienst du Mallayur.«
»Wo ist sie?«
»Im Bad.«
Da war ein Vorhang, der den Eingang zum Bad verdeckte, und dahinter hörte er es plätschern. Sie sang leise ein Lied, das keineswegs fröhlich klang, und schien nichts zu hören. Anschar glaubte, sein Brustkorb müsse platzen vor Sehnsucht. Er ging zu Buyudrar und legte eine Hand auf seine Schulter.
»Ich bin ihretwegen hier, aber ich will ihr nichts Böses. Das weißt du. Bitte lass uns allein. Bis morgen früh.«
Buyudrar nickte langsam. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das richtig ist. Aber du bist einer der Zehn, und ich bin es auch. Es schadet wohl nichts, wenn wir für eine Nacht die Plätze tauschen. Sie redet so oft von dir. Ich gönne es dir.«
»Danke.« Anschar reichte ihm die Hand, und der Mann, der befürchtete, irgendwann gegen ihn kämpfen zu müssen, schlug ein und ging.
Von oben erklangen Schritte. Harte Schritte. So selbstbewusst trat keiner der Sklaven auf. Wer mochte das sein? Wem hatten sie da geöffnet? Grazia bekam es mit der Angst zu tun. Sie raffte das Handtuch an sich und bedeckte damit ihre Brust. Ihr Kleid anzuziehen, würde viel zu lange dauern; schon näherten sich die Schritte der Badekammer. Die Decke wurde beiseitegerissen. Eine große, dunkle Gestalt erschien und beschattete die Stufen. Grazia öffnete den Mund zu einem Schrei. Wer immer es war, er fiel regelrecht die Treppe hinunter und platschte vor ihr mit den Knien ins Wasser. Jäh fand sie sich in einer harten Umarmung wieder.
Zwei große, allzu vertraute Hände packten ihren Kopf. Jetzt wollte sie wirklich schreien, doch vor Erleichterung.
»Anschar …« Mehr brachte sie nicht heraus, denn sein Mund presste sich auf ihren. Sein Kuss war so hart und wild wie alles an ihm. Er schien ihr ganzes Gesicht mit Küssen bedecken zu wollen und ließ ihr kaum Zeit, Atem zu schöpfen. Mit zusammengekniffenen Augen ließ sie es über sich ergehen, zitternd und glücklich. Endlich wich er ein Stück zurück. Erwartungsvoll sah er sie an. Er lachte. Wann hatte sie diesen Mann je lachen sehen?
»Du bist ja ganz nass«, war alles, was ihr zu diesem Überfall einfiel. Bis zur Taille kniete er im Wasser, mitsamt Rock und Schwertgürtel. Sein schwarzes Hemd war bis zur Brust bespritzt.
»Du auch.« Seine Augen blitzten. Erschrocken sah sie an sich herab. Glücklicherweise hielt sie immer noch das Tuch fest, aber ihr Körper zeichnete sich deutlich darunter ab. »Ich warte oben, Feuerköpfchen«, sagte er und sprang leichtfüßig die Treppe hoch.
Noch völlig benommen starrte sie ihm nach, obwohl er längst verschwunden war, nur die Decke schwang noch hin und her und verriet, mit welcher Wucht er hindurchgejagt war. Feuerköpfchen , dachte sie und berührte mit den Fingerspitzen ihre Lippen. Sie hatte dieses Kosewort so sehr vermisst.
Eilends stieg sie aus dem Wasser, schlang ein Tuch um die Haare und trocknete sich ab. Jetzt war sie froh darum, nicht in ihr altes Kleid steigen zu müssen, denn das hätte viel zu lange gedauert. Auf ihr Korsett mochte sie nicht verzichten, doch so schnell hatte sie es gewiss noch nie angelegt. Sie schlüpfte in ihr argadisches Gewand, wand sich den Gürtel um die Taille und lief hinauf.
Anschar war ebenso schnell gewesen, er
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