Das gläserne Tor
war, machte ihn verrückt.
Der Tag schlich dahin und wich der Nacht. Eine Frau brachte ihnen einen Wasserbeutel, den sie gierig leerten. Die Sklaven schlurften hinaus, und auch das erste Sklavenpärchen aus Anschars Schlafhütte wurde losgebunden.
»Wann wir wohl an der Reihe sind?«, fragte Parrad, der ihnen neidvoll nachsah. »Meine Beine sind schon wie Klumpen.«
»Hör halt auf zu treten. Es sieht doch keiner hin.«
»Unbeweglich herumzustehen, macht es auch nicht besser.«
»Dann lenk dich ab. Erzähl von deinen drei Frauen und achtundzwanzig Kindern.«
Parrad lächelte gequält. »Es sind achtzehn. Nur achtzehn.
Du hörst zwar sowieso nicht hin, aber gut! Kohred ist die hübscheste meiner Frauen. Leider auch die ungeschickteste, sie war zu nichts zu gebrauchen, nur für die Schlafmatte. Mein Vater hatte mir gesagt, das ist bei den Schönen immer so. Ich wollte es ja nicht glauben, aber es war so. Danach hab ich mir Terd genommen, die war wie Felsgestein: schrundig, hart und still. Leider war auch sie nutzlos. Mit Sihrod wollte ich es dann richtig machen, habe ihre Familie ausgiebig befragt und sie einige Tage beobachtet. Sie war fleißig, o ja. Leider brach sie sich bald darauf eine Hand, und das heilte nicht mehr richtig. Aber ich liebe sie alle drei, irgendwie. Sie haben mir ja auch viele hübsche Kinder geboren.«
Anschar verzog die Lippen und nickte verdrossen. Natürlich kannte er die Geschichte, aber wenn es half, Parrad aufzumuntern, würde er eben zuhören. Wie es weiterging, wusste er ohnehin.
»Wenn der Herr des Windes ihnen gnädig ist, sind sie sicher bei ihren Sippen, mitsamt den Kindern. Oh, wäre jener Morgen doch nie angebrochen! Wir gingen auf die Jagd und wagten uns viel zu dicht ans Hochland heran. Ein wildes Sturhorn jagten wir, das von seiner Herde getrennt war, weil es lahmte. Wir waren nur vier Männer, es wäre ein Leichtes gewesen. Aber als wir es stellen wollten, kamen plötzlich andere Sturhörner herangeprescht. Verdammt, diese Viecher sind so schnell, wenn man es schafft, sie zum Laufen zu kriegen. Sehram starb, weil er sich wehrte, aber wir anderen waren wie gelähmt vor Schreck. Herschedische Sklavenhändler! Es waren mindestens zwanzig.«
»Nicht zwölf? Ich meine, zuletzt waren es nur zwölf gewesen.«
»Machst du dich über mich lustig?«, ereiferte sich Parrad. »Es waren zwanzig! Ich sehe jetzt noch jede einzelne Goldperle, die sie in ihren Kinnbärten trugen. Wir warfen uns
ihnen zu Füßen und flehten um Gnade, aber die Männer deines Volkes wissen nicht, was das ist.«
»Ich bin kein Herschede.«
»Argaden oder Herscheden – das macht für jemanden, der gewaltsam seiner Familie entrissen wurde, keinen großen Unterschied. Weißt du, was das Schlimmste war? Es war nicht die Reise ins Hochland, als wir hinter den furzenden Sturhörnern herlaufen mussten. Es war auch nicht der Aufstieg oder das Gefühl, dass wir nicht atmen konnten, weil die Luft hier oben so anders ist. Es waren nicht die Nächte, in denen wir uns gegenseitig die Schultern nass heulten. Das war es«, er fasste an seinen bronzenen Ohrhaken. »Als mir das hier eingesetzt wurde, wusste ich, ich kann die Hoffnung begraben. Bis dahin hatte ich irgendwie geglaubt, es könne alles einfach nicht wahr sein.«
»Kann ich verstehen«, brummte Anschar. Dieses Gefühl war ihm inzwischen allzu vertraut, auch wenn er es nicht mit seinem Ohrhaken in Verbindung brachte. Er sah zu, wie Fargiur heranschlenderte, den Blick schweifen ließ und dann ein anderes Sklavenpaar losband und zum Schlafen schickte.
»Ich kann nicht mehr«, stöhnte Parrad. »Meine Waden bringen mich um.« Er tänzelte herum, im verzweifelten Versuch, die Schmerzen zu beenden. Schließlich wies Anschar ihn an, die Füße gegen seinen Schenkel zu drücken. Es schien zu helfen, zumindest wurde Parrad ruhiger. Auch die letzten Sklaven kamen von dem Netz los und wankten auf zittrigen Beinen ins Freie. Dann tat sich nichts mehr.
»Anschar, was haben wir getan, dass wir hier vergessen werden?«
»Nichts, Parrad, gar nichts. Denk nicht darüber nach.«
»Ich werde verrückt, wenn ich nicht bald hier herauskomme! So lange war ich noch nie angebunden.«
Der Wüstenmann sah wirklich schlecht aus. Sein dunkles
Gesicht war wie von einem grauen Schleier überzogen. Der Schweiß floss ihm in Strömen aus dem Bart. Anschar packte das Netz und hängte sich daran, doch es spannte sich nur.
»Nicht«, murmelte Parrad. »Wenn es reißt, hängen sie uns
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