Das gläserne Tor
ihrem Schatten und warf den Kopf hin und her, auf der Suche nach dem Wachtposten. Warnend hielt er den Finger erhoben.
»Still, du Sturhorn! Wenn sie uns hier draußen erwischen, ist das unser Ende.«
»Dein Ende, meinst du wohl.« Allerdings war sich Anschar keineswegs sicher, dass es nicht auch seines war. Er kniete hier neben einem Mann, der kaum würde leugnen können, auf der Flucht zu sein. Wer sollte ihm glauben, dass er ihn aufzuhalten gedachte? Als Parrad hochschnellte und loslief, hechtete er ihm nach, bekam seine Hüfte zu fassen und brachte ihn zu Fall. Der Wüstenmann zappelte unter seinem Gewicht und versuchte unter ihm wegzukriechen.
»Lass mich!«, heulte er, die Stimme gefährlich laut.
»Du schaffst es nicht. Komm zurück in die Hütte. Bei allen Göttern, komm zurück!« Anschar entwand ihm das Bündel und packte seine Handgelenke. Vielleicht sollte er ihn bewusstlos schlagen, damit er ihn zurücktragen konnte. Zugleich fragte er sich, was ihn das eigentlich anging. Was scherte es ihn, wenn ein Wüstenmann flüchtete und dabei zu Tode kam? War es nicht ohnedies besser, zu sterben?
»Was tut ihr da?«
Anschars Kopf flog hoch. Der Wachtposten kam angelaufen. Das Schwert schien in seine Hand zu springen.
»Nein!«, heulte Parrad. »Anschar, warum hast du das getan?«
»Ich wollte dich retten«, erwiderte Anschar ruhig, wenngleich er innerlich alles andere als das war. »Aber das ist jetzt wohl egal.«
Der Wächter baute sich breitbeinig über Parrads Kopf auf. Seine Klinge deutete auf dessen Kehle, die wild zuckte. »Er wollte abhauen?« Es war keine Frage.
»Ja.«
»Und du?«
»Nein.«
Der Wächter brüllte nach Verstärkung. Mit der Klinge winkte er Parrad auf die Füße. Der Wüstenmann setzte sich auf. Nun war er wieder so bleich wie am Morgen. Die
Erkenntnis des nahenden Todes schien sich schwer auf seine Schultern zu legen. Anschar stand auf und zog ihn hoch. Parrad sah ihn nicht mehr an. Erst als ein zweiter Wachtposten kam, dann ein dritter, kehrte so etwas wie Leben in seine Augen zurück.
»Dafür würde ich dich töten, wenn ich es könnte, Anschar«, flüsterte er. Eine Schlinge legte sich um seinen Hals. Seine Hände wurden ihm auf den Rücken gezogen. Dann bekam er einen Stoß. Gebeugt stolperte er vorwärts, seinem baldigen Ende entgegen.
18
G eschickte Hände massierten Anschars Körper und rieben ihn von Kopf bis Fuß mit einem Öl ein, das seine geschundene Haut beruhigte und das Jucken an den Unterschenkeln milderte. Er war sauber. Seine Haare waren gewaschen, die Spitzen gekürzt, die Zöpfe ordentlich geflochten und mit einem sauberen Band zusammengebunden. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl. Es würden wohl mehrere Bäder nötig sein, bis er den Gestank nach Urin und Schweiß aus der Nase verlor. Aber den Bart, den verlor er jetzt, und das war zweifellos das Beste, was man in einer der Badekammern im Palast von Heria mit ihm tat. Der Bartscherer drückte seinen Kopf etwas zurück, rieb seine untere Gesichtshälfte mit Seifenkraut ein und machte sich daran, den scheußlichen Bewuchs zu entfernen. Es war ein Genuss, das scharfe Messer zu spüren, wie es über die Haut kratzte und sie glättete. Anschar
hielt mit geschlossenen Augen still. Sanft glitt ein Tuch über sein Gesicht, entfernte den Rest des aufgeschäumten Krauts, dann folgte ein besänftigendes Öl. Er betastete sein Gesicht.
»Hier hast du etwas übersehen.« Er zupfte an einer Stelle am Kinn, wo der Bart noch stand.
»Das soll so sein. Der König persönlich hat mich dazu angehalten.«
»Ich soll mit einem herschedischen Ziegenbart herumlaufen?« Normalerweise hätte er dem Mann das Messer aus der Hand genommen und den Rest eigenhändig entfernt, aber jetzt erschien es ihm nicht wichtig genug. Oder es lag daran, dass er in den Werkstätten tatsächlich gezähmt worden war. Er wusste es nicht.
Der Bartscherer nahm eine Zange zur Hand und verankerte wieder die Blume von Heria an Anschars Ohr. Dann verschwand er, stattdessen kam ein Sklave und legte Kleider auf die Liege, dazu ein Paar kunstvoll geknüpfte Bastsandalen und das Schwert. Anschar zog es so schnell aus der Scheide, dass der Sklave rückwärts aus dem Raum stolperte und hinter sich die Tür zuschlug. Die Klinge zischte durch die Luft. Es fühlte sich gut und vertraut an, und er glaubte nicht, dass er irgendetwas verlernt hatte. Dann erinnerte er sich daran, dass er zuletzt mit diesem Schwert gegen Darur gekämpft hatte, und die Freude
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