Das gläserne Tor
nichts
mehr verhindern. Henon starb, Egnasch würde sterben, und Anschar zuletzt wohl auch.
Am Ende der Terrasse angelangt, kauerte sie sich hin und rieb sich über die Augen. Unverändert stand Anschar da, mit dem vorgestreckten Schwert in der Hand. Wahrscheinlich hatte er gar nicht richtig wahrgenommen, dass sie sich ihm genähert hatte. Er hatte nur Augen für sein Opfer, das sich jetzt an der Brüstung hochschob, um der Schwertspitze auszuweichen, die sich gegen seinen Bauch drückte.
Egnasch sah zu Anschar hoch, seine Lippen formten Worte – flehentliche Worte, wie es schien, aber es kam nichts als unverständliches Gestammel. Er konnte nur noch auf die Brüstung klettern, wollte er verhindern, dass sich das Schwert langsam in ihn bohrte.
»Ja, spring«, sagte Anschar. »Auf dem Pflaster da unten zerschmettern ist das richtige Ende für einen Hund wie dich.«
»Lass mich in Ruhe!«, heulte Egnasch mit sich überschlagender Stimme. Er kniete auf der Brüstung. Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Die Innenseiten seiner Beine waren nass. Grazia bezweifelte, dass er sich des Abgrunds hinter ihm bewusst war. Den Dolch schien er vergessen zu haben, obwohl er ihn immer noch in der Hand hielt.
Anschar machte einen Schritt vorwärts. Das Schwert begann sich in Egnaschs Bauch zu bohren. Der Dolch klapperte zu Boden. Egnaschs Körper durchfuhr ein Zittern, als werde er von der Waffe in seinem Fleisch durchgeschüttelt. Er neigte sich nach hinten. Die Klinge glitt aus ihm heraus, und er verschwand hinter der Brüstung.
Einen Herzschlag später hörte Grazia einen dumpfen Aufprall und die Schreie einiger Menschen.
19
S ie sah zu, wie Anschar Henons Hände über dem mageren Bauch kreuzte und die Finger verschränkte. Innerlich wirkte er wie versteinert. Sie wartete in einigen Schritten Entfernung, bis er Henons Stirn geküsst hatte und sich aufrichtete.
»Jetzt geschieht, was du immer wolltest, Grazia«, sagte er, ohne sich umzuwenden. »Ich werde fliehen.«
Er tat so, als besäße er dazu alle Zeit der Welt. Als sei ihm nicht bewusst, dass unten auf der Straße ein Toter lag, der die Menschen anlockte. Es konnte nicht lange dauern, bis man herausfand, wo Egnasch heruntergefallen war. Würde Madyur seinen früheren Leibwächter schützen? Wohl kaum.
Grazia raffte ihr Kleid auf und schlüpfte hinein. Dann packte sie eilends ihre Sachen zusammen. Viel war es nicht; zu ihren eigenen Besitztümern waren nur die Zeichnungen, ein paar Kleidungsstücke, Toilettenartikel und Kleinkram hinzugekommen. Sie stopfte ihre Grastasche voll, schlüpfte in ihren Mantel und legte sich den Riemen über die Schulter. Glasklar wurde ihr bewusst, dass sie mitten durch die Stadt hetzen mussten – jeder auf eigene Weise sehr auffällig.
»Was tust du da?«, fragte Anschar. Er stand am Eingang zum Schlafzimmer.
»Ich gehe mit dir. Und versuch nicht, es mir auszureden.«
Er sagte nichts, er stand nur da. Grazia lief zu ihm und rüttelte an seinen Schultern. Jetzt wirkte er so müde, dass sie keine Angst mehr hatte. »Komm zu dir, bitte! Du musst so
schnell wie möglich weg. Wir beide müssen weg. In wenigen Augenblicken werden etliche Leute hier hereinstürmen!«
Sie ging an ihm vorbei ins Schlafzimmer und beugte sich über Henon. Der Tod schien ihn noch einmal um zehn Jahre älter gemacht zu haben. Auch sie gab ihm einen Kuss. Sie hatte den alten Mann sehr gemocht, aber zum Trauern war jetzt keine Zeit. Zurück im Wohnzimmer, bemerkte sie erleichtert, dass Anschar seine Erstarrung abgeschüttelt hatte. Er war schnell wie eh und je, als er durch die Räume fegte, aus einer Truhe sein altes schwarzes Hemd und den schwarzen Wickelrock nahm und sich ankleidete. Von dem weißen herschedischen Rock riss er Streifen ab und wickelte sie um seine rechte Hand. Mit dem Rest des Rockes säuberte er die Schwertklinge, schob sie in die Scheide und schnallte sie sich um. Egnaschs Dolch schob er hinten in den Gürtel. Dann zog er einen Mantel aus einer Truhe und warf ihn sich über. Er zupfte am rechten Ärmel, sodass möglichst wenig des Verbandes zu sehen war.
»Das ist auffällig, aber weniger auffällig als die Tätowierung«, sagte er. »Und jetzt weg hier. Ich werde versuchen, dich zu dem heiligen Mann zu bringen. Wenn dein Gott dir gnädig ist, wird er dich das Tor finden lassen und es dir öffnen.«
»Und was wird aus dir?«
»Das überlege ich mir unterwegs.«
Er führte sie durch fremde Gänge des Palastes. Blind vertraute sie sich
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