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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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ihm an, und als sie an einer Seitenpforte ankamen, waren ihnen nur Palastsklaven und niedere Bedienstete begegnet. Die Pforte war nicht verschlossen. Ungesehen gelangten sie auf einen kleinen Platz, auf dem Händler ihre Tische aufgestellt hatten. Gegenüber öffnete sich eine schmale Gasse, in die Anschar eintauchte. Grazia atmete auf, hatte sie doch befürchtet, sie würden Buyudrar oder Schemgad in
die Arme laufen. Aber es gab keinen Grund, zuversichtlich zu sein. Die Flucht fing erst an.
    Im Laufen zog er den Dolch und bog mit der Spitze die Öse seines Ohrrings auf. »Nicht!«, rief sie, als er Anstalten machte, ihn fortzuwerfen. Er gab ihn ihr.
    »Was willst du denn damit?«
    »Meiner Familie zeigen, wenn ich wieder zu Hause bin.«
    »Mallayurs Zeichen? Das ist doch wirklich nichts, was man mit Stolz herumzeigt.« Er packte ihren Arm und zog sie in eine Seitengasse. Irgendjemand rief, beim Palast liege ein Toter. Die Menschen steckten die Köpfe aus ihren Häusern, stiegen von den Dächern herunter und taten sich an der aufregenden Nachricht gütlich. Aber niemand achtete auf sie.
    Der Weg durch das Labyrinth der Gassen erschien ihr endlos und die aufragende Stadtmauer bedrohlich. Als das Osttor in Sicht kam, zog sie die Kapuze noch tiefer ins Gesicht. Das fiel nicht auf, denn so schützten sich viele Menschen vor der Sonne. Auch Anschar bedeckte seinen Kopf. Sie kamen auf eine breite Marktstraße und tauchten ein in ein Meer von Menschen, Zugtieren und Karren. Grashändler mit ihren bis in den Himmel beladenen Karren bevölkerten die Straße; Wasserfrauen, die pralle Schläuche auf dem Rücken mit sich führten und jeden für ein kleines Entgelt trinken ließen; Sklaven in weißen Röcken und mit Sonnenschirmen und Federwedeln; Sänftenträger mit geölten Körpern und schrill geschminkte Frauen, deren durchscheinende Kleidung nichts verbarg. Grazia umklammerte Anschars Hand, da sie befürchtete, ihn zu verlieren. Er ging so schnell, dass ihr der Atem wegblieb. Erst als sie durch das Tor waren, verlangsamte er ein wenig seine Schritte.
    »Wir werden der Schlucht folgen«, erklärte er. »Bis zum Hyregor haben wir einen dreitägigen Marsch vor uns.«
    »Allein der Gedanke lässt meine Füße schmerzen. Können wir uns kein Pferd besorgen?«
    »Grazia, wem hast du gesagt, dass du zu dem heiligen Mann willst?«
    »Nun, äh … einigen. Fidya weiß es. Sildyu auch, sie hatte mir ja von ihm erzählt. Und der König natürlich.« Nur langsam dämmerte ihr, warum er das gefragt hatte. »Aber dann werden sie uns ja bald auf den Fersen sein! Wie sollen wir es je unbemerkt zu dem heiligen Mann schaffen?«
    »Indem wir abseits der Straße im unwegsamen Gelände laufen, dicht an der Schlucht. Deshalb können wir auch kein Pferd nehmen, denn damit würden wir leicht entdeckt werden.«
    »O Gott«, flüsterte sie und blieb stehen, ohne dass sie es wollte. Sie zitterte am ganzen Leib. »Das hätte alles nicht geschehen dürfen.«
    »Wir schaffen das. Denk an die Wüste, da waren es drei harte Monate. Jetzt werden es nur drei harte Tage.« Er berührte ihre Wange. Sie wollte eintauchen in diese dunklen Augen, die ihr Trost, aber auch Anstrengungen versprachen. »Danach bist du zu Hause.«

    Grazia kramte nach ihrer Uhr und klappte sie auf. Vier Stunden waren sie nun gelaufen, im Niemandsland zwischen der Straße und der Schlucht.
    Der mit vereinzelten Bäumen und viel Unterholz überwucherte Streifen war breit genug, um darin unterzutauchen, aber viel zu steinig für ihre zarten Füße. Sie hatte Anschar angebettelt, auf der Straße laufen zu dürfen. Die war zwar unbefestigt und sehr staubig, aber geebnet. Er gestattete es nicht, und sie fragte nicht mehr.

    Anschar war in Schweigen versunken. Ab und zu bemerkte sie seine Tränen, die er um Henons willen vergoss.
    »Ich brauche eine Pause, Anschar!«
    Mit einer unleidlichen Geste schlug er die Kapuze zurück. »Jetzt schon? Na schön, es schadet wohl nichts.« Er führte sie in Richtung der Schlucht, wo das Gelände ein Stück abfiel. Ihr zitterten die Knie, als sie einige natürliche Felsenstufen hinabsteigen musste. Aufatmend hockte sie sich hin und kramte einen Becher aus ihrer Tasche.
    »Durst müssen wir zwar nicht leiden«, sagte sie und hielt ihm den gefüllten Becher hin. »Aber wir haben nichts zu essen dabei.«
    »Hast du Geld?«
    »Ja. Ich würde aber gern von jeder Sorte eine Münze mit nach Hause nehmen.«
    »Für deine Familie? Nun, morgen früh gehe ich ins

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