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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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nächstgelegene Dorf und sehe, ob sich unauffällig etwas Brot auftreiben lässt. Notfalls müssen wir Graswurzeln ausgraben. Verhungern werden wir schon nicht.« Er gab ihr den Becher zurück. »Dieses wohlschmeckende Wasser werde ich vermissen, wenn du fort bist.«
    Die Bemerkung versetzte ihr einen Stich. Würde er nur das vermissen? Missmutig starrte sie in die Schlucht und sah zu, wie eine Kette von langschwänzigen Vögeln die Luft durchpflügte und an der gegenüberliegenden Felswand ihre Nester aufsuchte. Dunkel war sie, von zahllosen Rissen und Simsen durchzogen, aber das Gestein glatt. Es wirkte tatsächlich ein wenig wie von einer Riesenklinge durchtrennt. In den Rissen wuchs das allgegenwärtige Gras, das sich im Wind wiegte. Auch davon wollte sie etwas mitnehmen. Sie würde viele Beweise brauchen, um ihren Eltern und Friedrich glaubhaft zu machen, wo sie gewesen war.
    »Wir müssen weiter, Feuerköpfchen.«

    »Schon? Ich muss aber erst mein Korsett anziehen. Würdest du dich bitte umdrehen?«
    »Dein was?«
    »Aber du kennst es doch«, sagte sie verschwörerisch und zog es ein Stück aus der Tasche. »Siehst du? Heute früh war keine Zeit, es anzuziehen, und mir schmerzt ganz furchtbar der Rücken.«
    »Es schwächt deine Muskeln, daher die Schmerzen.«
    »Es gibt Frauen bei uns, die das auch sagen. Aber ein Mann käme nie auf die Idee, es einem ausreden zu wollen. Dazu gefallen wir ihnen darin viel zu gut.«
    Mit einem verächtlichen Grunzen kehrte er ihr den Rücken zu. Sein Blick hatte jedoch verraten, dass er diese Ansicht nachvollziehen konnte. Grazia beeilte sich, das Korsett anzulegen und das Kleid wieder überzustreifen. »Es muss nachgeschnürt werden. Würdest du mir bitte helfen? Mein Arm schmerzt, ich kann es nicht richtig.« Sie griff hinter sich und zog das Kleid gerade so weit hoch, dass er die Schnürung sehen konnte. Ihre Schultern zitterten in der Erwartung, von ihm berührt zu werden. Der suchende Druck seiner Finger jagte ihr prickelnde Schauer über die Haut. Still saß sie da, mit geschlossenen Augen, um durch das Korsett seine Berührungen zu erfühlen. Schmerzhaft drückten ihre Brustwarzen gegen den Stoffpanzer.
    Anschar zog an den Schnüren. »Gut so?«
    »Fester.«
    Er wiederholte es. »So?«
    »Mhm. Ja.«
    Mühelos arbeitete er sich hinauf und schlug dann den Stoff herunter. Grazia ordnete ihr Kleid und wandte sich ihm wieder zu. Sie hatte erwartet, dass er … interessierter vorgegangen wäre. Natürlich nur ein wenig, ein ganz klein wenig. Aber er schien darauf bedacht, sich keine zweite
Zurückweisung einzufangen. Vielleicht lag es auch an seiner Trauer. Oder einfach nur daran, dass Unterwäsche auf ihn keinen Reiz ausübte.
    »Warum schmerzt dein Arm?«, wollte er wissen. »Hast du dich gestoßen?«
    Er hatte in seiner Raserei tatsächlich nicht gemerkt, dass er sie von sich geschleudert hatte. Unwillkürlich rieb sie sich die schmerzende Stelle.
    »Ja«, murmelte sie. »Ich weiß nicht. Irgendwie.«
    »Zeig her.«
    Sie streckte ihm den Arm hin. Er schob den Ärmel hinauf und betastete vorsichtig das Fleisch. Es war ihr unangenehm, denn bis auf einen dicken blauen Fleck war da nichts.
    »Du bist wirklich verzärtelt.« Er lächelte und hob ihre Hand an die Lippen. Die zarte Berührung ging ihr durch und durch. Sie sehnte sich danach, dass er sie an sich zog, aber er tat es nicht. Dazu war es zu spät, das wusste er wohl. Bald würden sie voneinander getrennt sein, und dann war es besser, keine Erinnerungen zu haben, die einen auf ewig plagten. Keine Erinnerungen?, dachte sie. Du Närrin. Du hast ihn geküsst. Du hast neben ihm im Bett gelegen.
    »Komm jetzt.« Er stand auf und half ihr, die Felsenstufen wieder hinaufzusteigen. Ihr Rücken schmerzte jetzt bedeutend weniger, aber gewiss würde sie heute Abend wieder jammern. Sie gingen ein Stück voraus, wo sich das Unterholz etwas lichtete. Auf einer freien Fläche stand ein Reiter. Deutlich sah sie den Schweif seines Reittiers, der nach Fliegen schlug; die Hand des Mannes, die über die Stirn strich, wie um Schweiß abzuwischen. Oder die Augen zu beschatten, um Ausschau zu halten. Im nächsten Augenblick kauerte sie auf dem Boden, hinter einem Felsblock. Anschar hatte den Rücken gegen den Stein gepresst und sie an sich gedrückt. Mit der freien Hand zog er langsam sein Schwert. Das Zischen
des Metalls, das über das Scheidenmundblech glitt, kam ihr erschreckend laut vor. Sie musste an sich halten, nicht die Hand

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