Das gläserne Tor
Er lachte leise. »Ich bezweifle, dass sie je meine Existenz bemerkte. Wie auch immer, als ich die Tätowierung bekam, war es vorbei mit den albernen Träumen von Frau und Kindern, denn einer der Zehn lebt nur für den Meya.
Also bleiben nur fremde Frauen. Manche werden ganz wild, wenn sie die Tätowierung sehen. Andere erschreckt sie. Und so ist das, was ich finde, immer nur ein williger Körper oder eine Frau, die flüchtet, wenn es ernst wird.«
Mutter hatte ganz recht, dachte sie. Was ich bisher über die Liebe gelesen habe, war nur dummes Zeug.
Anschar würde sie nicht auf Händen in den Himmel tragen, denn er wusste gar nicht, wie das ging. Er konnte ihr ja nicht einmal den Hof machen. Niemals durfte sie sich ihm hingeben. Sie mochte ihn, aber sich an ihn für eine Nacht verschenken? Um es auf ewig zu bereuen? Allein hier neben ihm zu liegen, obschon tatenlos, war schlimm genug. Grazia presste die Augen zusammen. Tränen flossen ihr an den Schläfen herunter. Ihr Bauch, dort, wo er sie berührt hatte, schien zu glühen. Er war so dicht bei ihr und doch unerreichbar. Es tat so weh, zu erkennen, dass er nicht der Richtige war. Sie war für Friedrich bestimmt.
Sie glaubte zu spüren, dass er ebenso mit offenen Augen dalag und in die Dunkelheit starrte. Enttäuscht, ernüchtert. Nach einer Zeit, die ihr wie eine Stunde vorkam, rutschte sie näher und legte die Hand auf seine Brust. Er knurrte leise, als sie die Finger bewegte, schob den Arm hoch, und sie bettete erleichtert den Kopf auf seiner Schulter.
»Ich mag deine Tätowierung«, flüsterte sie. »Sie macht mir jedenfalls keine Angst.«
Als Antwort strich er ihr die Haare aus der Stirn und küsste sie zwischen den Brauen. Es tat so wohl.
Ein harter Kuss weckte sie. Grazia rieb sich die Augen. Es war taghell. Anschar hatte sich erhoben und war im Begriff, sich den Rock umzubinden.
»Ich habe verschlafen!«, verkündete er und klang dabei fast heiter. »Mallayur wird mir die Haut abziehen.«
»O Gott«, murmelte sie, setzte sich auf und angelte nach ihrer Uhr auf dem Hocker. Zehn Uhr! Vielmehr neun, aber das waren immer noch etwa drei Stunden Verspätung. Sie stellte die Uhr um eine Stunde zurück und zog sie auf.
»Ich könnte gleich hingerichtet werden, und du spielst mit dem Ding da herum. Was daran nützlich ist, hast du mir nie erklärt.«
Sie zeigte ihm das Ziffernblatt. »Der Tag ist hier in zwölf Stunden eingeteilt. Bei uns hat ein Tag vierundzwanzig Stunden, ganz unabhängig von Sonnenauf- und untergang und auch unabhängig von der Jahreszeit. Sie sind gleichmäßig eingeteilt, daher kann man anzeigen, wie sie verstreichen. Hier sind es fünfundzwanzig Stunden, das macht es etwas schwierig. Ich muss die Uhr jeden Morgen um eine Stunde zurückstellen.«
»Aha. Und wofür brauchst du das?«
»Zum Beispiel kann ich erkennen, wann es Essenszeit ist. Hast du meine Erklärung denn verstanden?«
»Ein bisschen vielleicht. Das reicht mir auch schon. Wenn ich Hunger habe, knurrt mein Magen. In deiner Welt lässt man sich allen Ernstes von diesem Ding sagen, wann man essen soll?«
Er ging um das Bett und beugte sich herab, um sie ein zweites Mal, diesmal genüsslicher, zu küssen. Grazia hielt sich an seinem Haar fest, doch er löste nach einer Weile ihre Finger und richtete sich wieder auf.
»Ich fürchte, uns bleibt für nichts Zeit.« Er griff sich in den Nacken und band die Haare zurück. »Wirst du damit zurechtkommen?«
Sie schüttelte den Kopf und nickte dann. Das musste sie ja. Noch hatte sie nicht recht begriffen, dass der Abschied kurz ausfallen würde. Anschar verschwand im Wohnzimmer.
Plötzlich war ihr übel vor Angst. War die Verspätung wirklich so schlimm? Hatte Anschar das mit der Hinrichtung etwa ernst gemeint? Sicher nicht! Sie warf die Beine über die Bettkante, stand auf und bückte sich nach ihrem Korsett. Er musste ihr dringend bestätigen, dass es nur ein schlechter Scherz gewesen war.
Aus dem Wohnzimmer kam ein Schrei. So laut, hart und entsetzt, dass er ihr durch alle Knochen fuhr.
»Henon!«
Grazia hastete ins Wohnzimmer. An der Tür kniete Anschar mit Henon in den Armen. Es sah aus, als habe er geöffnet, um den alten Mann einzulassen, und dieser war ihm entgegengefallen. Anschar hielt seinen Hinterkopf und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
»Was ist passiert?«, rief Grazia und eilte zu ihnen. »O nein, seine Stirn ist ganz blutig!«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Anschar. Er ließ ihn zu Boden
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